Lyon: „Lady Macbeth von Mzensk“

Opéra de Lyon am 23.1.2016

Dmitri Tcherniakov zählt heute gewiss zu den interessantesten Opernregisseuren der Gegenwart. Kaum einem anderen Regisseur gelingt es so überzeugend Opernhandlungen aus vergangenen Jahrhunderten in die Gegenwart zu transportieren. Ich denke da nur an die großartige Produktion der „Zarenbraut“ von Rimsky-Korssakow oder an die nicht weniger erfolgreiche Inszenierung von Prokofjews „Der Spieler“, die beide im Berliner Schillertheater und an der Mailänder Scala zu sehen waren, oder an seine großartige „Eugen Onegin“-Inszenierung vom Bolschoi-Theater, die man auch in Paris und Madrid bewundern konnte. Dass ihm natürlich auch nicht alles gelingt, beweist leider seine völlig misslungene Inszenierung von Poulencs „Dialogues des Carmélites“ an der Bayerischen Staatsoper München, die nicht nur den Erben des Komponisten missfällt. Die nun in Lyon gezeigte Inszenierung von Schostakowitschs Meisterwerk „Lady Macbeth von Mzensk“ (in der Originalversion von 1934) ist eine Koproduktion mit der English National Opera London. In London wurde diese Inszenierung vor einem Jahr gezeigt, dabei handelt es sich um eine gründliche Neufassung einer ursprünglich für die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg erarbeitete Produktion aus dem Jahr 2008.

Tcherniakov entwirft für seine Inszenierungen auch immer das Bühnenbild selbst. Hier haben wir nun für die ersten drei Akte ein Einheitsbühnenbild. Ein riesiges Fabrikgebäude, im dem ständig heftiges Treiben herrscht, Gabelstapler herumfahren und wo der Arbeiterbereich vom Büro nur durch Glaswände abgetrennt ist. Die Wohnung des Fabrikbesitzers Boris Ismailow befindet sich rechts im Off-Bereich. Und in der Mitte ist der mit traumhaft schönen Wandteppichen ausgestatteten Wohnraum des Sohnes des Fabrikbesitzers, Sinowi Ismailow, und dessen Frau. Die zur Untätigkeit verdammte und daher gelangweilte Katerina wird dort wie eine mit folkloristischer Tracht ausgestattete Puppe in einem Museum gehalten und zur Schau gestellt. Ihr Schwiegervater ist ein Ekelpaket, wie man es sich nicht schlimmer vorstellen kann. Einerseits überwacht er Katerinas Tugend, andererseits ist er selbst geil auf sie und würde nur zu gerne anstelle seines impotenten Sohnes den Platz in ihrem Bett einnehmen.

Den ganzen Tag begrapscht Boris Ismailow seine Sekretärinnen im Büro; kein Wunder also, dass seine Arbeiter, die das den ganzen Tag mitansehen, es ihrem Boss gleich tun wollen und die Angestellte Axinja rudelweise vergewaltigen. Es ist eigentlich erschreckend zu sehen, dass sich das heute genauso abspielen kann wie im 19. Jahrhundert. Tcherniakov stellt Menschen von heute auf die Bühne und entwickelt diese Geschichte in der Gegenwart völlig überzeugend. Was bei Tcherniakov besonders beeindruckt, ist die Fähigkeit Musik in Bilder zu übertragen. Die stärksten Momente erreicht die Inszenierung während der Orchesterzwischenspiele, die der Regisseur großartig in Szene setzt. Ich möchte hier nur zwei Beispiele anführen: die Gruppenvergewaltigung der Axinja und die erste Begegnung mit dem Arbeiter Sergei hat Katerina so aufgewühlt, dass sie sich in dem nachfolgenden Orchesterzwischenspiel selbst befriedigt, und nachdem Katerina ihren Schwiegervater vergiftet und den misshandelten Sergei aus dem Keller befreit hat, zieht sie ihn nackt aus, wäscht ihm das Blut vom Rücken und salbt ihm seine Wunden ein.

Das Ganze hatte etwas Rituelles, ja fast schon Religiöses an sich. Und alles harmonisiert mit der entsprechenden Musik ganz wunderbar. Es ist andererseits jedoch erstaunlich, dass dem Regisseur dafür realistische Szenen gründlich misslingen. Auch hier möchte ich einige Beispiele nennen: die wohl berühmteste Sexszene der Opernliteratur hat er einfach nicht inszeniert. Alles spielt sich hinter der angelehnten Tür ab und nur eine hin und her schwingende nackte Glühbirne soll den Geschlechtsakt andeuten, den Schostakowitsch so wunderbar in Musik gesetzt hat. Dadurch wurde die Aufführung auch um einen Höhepunkt beraubt. Denn wenn am Ende des Liebesaktes die Posaunen lautstark eine abfallende Tonfolge spielen und anschließend nur noch stöhnende Töne produzieren, begreifen sogar unmusikalische Besucher, was damit gemeint ist. In Aufführungen, wo diese Sexszene wirklich gut inszeniert ist, sorgt diese „musikalische Erschlaffung“ immer wieder für Heiterkeit. (Ich denke da nur an die sensationelle Inszenierung von Christine Mielitz an der Wiener Volksoper oder an die aufregende Produktion von Martin Kusej an der Niederländischen Oper Amsterdam.) Hier zeigte das Publikum nun keinerlei Reaktion auf diesen köstlichen musikalischen Einfall. Schade!

Ebenfalls völlig verschenkt war die Szene, in der der Schäbige Sinowis Leiche im Keller entdeckt oder auch die Szene mit den Polizisten. Der letzte Akt spielt bei Tcherniakov in einer winzigen und dreckigen Gefängniszelle, in der Katerina ihre Strafe verbüßt. Später wird in dieser Zelle noch Sonjetka einquartiert. Der Gesang des alten Gefangenen und des Chores erklingt aus dem Dunkel rund um diese Gefängniszelle. Wenn Katerina ihren Kopf in das mit Wasser gefüllte Waschbecken taucht, sieht das sehr nach einem Selbstmordversuch aus. Die Liebe Sergeis, der im gleichen Gefängnis einsitzt und durch Bestechung in Katerinas Zelle auf Besuch kommt, ist erkaltet. Als er die aufreizende neue Zellengefährtin von Katerina entdeckt, wendet er sich ihr zu. Für ein paar warme Strümpfe, die er Katerina abluchsen kann, gewährt Sonjetka ihm ein Schäferstündchen, das sich in unmittelbarer Gegenwart von Katerina in der Zelle abspielt. Kein Wunder also, dass es Katerina jetzt reicht und sie ihre Nebenbuhlerin erschlägt. Die hereinstürmenden Wachen treten Katerina zu Tode und machen sich anschließend über ihre wenigen Habseligkeiten her. Ein hartes und brutales Ende.


Vladimir Ognovenko, Ausrine Stundyte

Diese Aufführung besticht aber nicht nur durch diese spannende und aufwühlende Inszenierung, sondern auch durch eine musikalisch hervorragende Einstudierung. Höchstes Lob gebührt dem Chefdirigenten Kazushi Ono, der gemeinsam mit dem Orchester der Opéra de Lyon vor allem in den bombastischen Zwischenspielen eine orchestrale Klangpracht entwickelte. Wie gut er mit dem Orchester gearbeitet haben muss konnte man auch daran erkennen, wie großartig all die Orchestersoli geklungen haben, denn trotz großer Orchesterbesetzung gibt es nur wenige Tutti-Einsätze; es dominiert ein solistisches akkompagnierendes Musizieren. Auch der Chor der Opéra de Lyon bestach durch Homogenität und Klangfülle (Einstudierung: Philip White) und auch hier traten einige Mitglieder solistisch (in kleineren Partien) hervor. Die aus Vilnius stammende SopranistinAusrine Stundyte (sie hat an der Wiener Volksoper bereits als Leonore im „Fidelio“ gastiert) war eine phänomenale Katerina.

Man glaubte ihr einfach alles, die gelangweilte und vernachlässigte Ehefrau, die durch den leidenschaftlichen Sex mit Sergei erst so richtig zum Leben erwacht, und zuerst durch ihre Liebe und später aus Eifersucht zur Mörderin wird. Sie besitzt zwar eine etwas harte Stimme mit Vibrato, aber sobald in ihr die Liebe erwacht, lodern die Leidenschaften auch vokal auf. Für diese eindrucksvolle Leistung wurde sie am Ende vom Publikum zu Recht mit einem Jubelorkan überschüttet. Vom Mariinsky Theater in St. Petersburg wurden gleich zwei Bässe für diese Produktion engagiert. Gennady Bezzubenkov war die köstliche Karikatur eines Popen und im letzten Akt sang er noch zusätzlich den alten Gefangenen mit seiner sonoren Stimme. Einfach überwältigend als Machtmensch und als widerlicher Lustmolch war Vladimir Ognovenko in der Rolle des Schwiegervaters Boris. Mit seinem schwarzen Bass gelang es ihm mühelos die tiefsten Tiefen noch klangvoll und voluminös erklingen zu lassen. Die beiden Tenöre kamen aus England und hatten ihre Rollen schon vor einem Jahr an der ENO in London interpretiert. Peter Hoare war mit seinem hellen Charaktertenor ein völlig überzeugender Schwächling von einem schlappen Ehemann, während der vor Muskelkraft strotzende John Daszak mit seinem kräftigen Heldentenor eine Idealbesetzung des testosterongesteuerten Sergei war. Aus Österreich kam die Sonjetka: mit ihrem warm leuchtenden Mezzosopran und ihrer Top-Figur verdrehte Michaela Selinger als halbnacktes, kaugummikauendes Punkgirl Sergei den Kopf. Die übrigen Sänger in den vielen kleineren Partien mögen sich mit einem Pauschallob zufriedengeben, sie alle trugen mit ihrem stimmlichen und körperlichen Einsatz zum großen Erfolg dieser Aufführung bei.

Eine musikalisch sensationelle, szenisch ungemein spannende und aufregende Aufführung. Denn trotz der von mir oben vorgebrachten Einwendungen ist Tcherniakov wieder eine atmosphärisch dichte und aufwühlende Inszenierung gelungen. Wenn auch manche Details mit dem Text nicht immer im Einklang stehen, so zählt doch letztlich das Gesamtpaket. Und das ist wieder sehr beeindruckend. Andere Opernhäuser versprechen immer nur spannendes Musiktheater. In Lyon wird es geboten.

Walter Nowotny 28.1.16

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Bilder (c) Pierre Maurin