Straßburg: „Das Märchen vom Zaren Saltan“, Nikolai Rimski-Korsakov

Da dieses Werk von Nikolai Rimski-Korsakov, das mit Ausnahme in Osteuropa nur zum äußerst selten gespielten Repertoire gehört, scheint mir eine Inhaltsangabe angebracht: Im Prolog überlegen drei Schwestern, was sie täten, wenn der Zar eine von Ihnen zur Gemahlin nehmen würde. Der Herrscher hat sie belauscht und wählt die Jüngste, die ihm „nur einen Sohn“ schenken will.

Kaum vermählt, zieht der Zar mit seinen Truppen in den Krieg. Zarin Militrissa will ihrem Gatten die Nachricht von der Geburt des gesunden Zarewitsches senden. Die böse Babarikha vertauscht diese durch eine mit den zwei verschmähten Schwestern abgesprochene schlechte Nachricht: der Thronerbe sei eine Missgeburt. Im Schloss ertönen Wiegenlieder für das Baby, als ein Bote des Zaren mit einem klaren Befehl erscheint. Die fröhliche Stimmung schlägt jäh um, die Zarin und ihr Sohn sollen in ein Fass eingeschlossen und ins Meer geworfen werden. Trotz Volkszorn besteht die Zarin darauf, dass der Befehl ausgeführt wird. Die Schwestern und Barbarikha können ihre rachsüchtige Schadenfreude nicht verhehlen.

(c) Karl und Monika Forster

Im zweiten Akt erlegt Zarewitsch Guidon einen Greifvogel, der einen Schwan erbeuten will. Der gerettete Schwan verwandelt sich in ein schönes Mädchen, das ihm für die Zukunft Hilfe verspricht, wann immer er sie nötig habe. Die junge Frau verwandelt sich in den Schwan zurück. Mutter und Sohn schlafen am kahlen Strand. Am nächsten Morgen erblicken sie eine große Stadt, unter hymnischem Glockenklang nahen deren Bürger und küren Guidon zu ihrem Herrscher.

Im dritten Akt blickt Guidon sehnsüchtig einem Schiff nach, das in ein fremdes Reich segelt. Er ruft den Schwan zu Hilfe, der ihn in eine Hummel verwandelt. Und so folgt Guidon dem Schiff, das im Zarenreich anlegt. Der Zar erfährt von den Seeleuten von der prächtigen Stadt auf der vormals öden Insel, er möchte diese besuchen. Die drei bösen Weiber ersinnen Lügen, um ihn davon abzuhalten. Die Hummel sticht eine nach dem Andern, macht sie vor Schmerz verstummen. Das Insekt entkommt. Der Zar will am nächsten Tag die Insel besuchen.

Im vierten Akt ersehnt sich Guidon am Strand träumend eine Gemahlin. Der Schwan erscheint und verwandelt sich ein letztes Mal in eine schöne, junge Frau, die Schwanenprinzessin. Das Zaren Schiff legt an, der fremde Herrscher wird mit Pomp empfangen. Er erzählt vom Verlust seiner Gattin, Guidon erkennt in ihm seinen Vater. Und der Zar findet seine Militrissa wieder. Und wenn sie nicht gestorben sind …

Dieses Werk ist mir nie begegnet, ich kannte vom Komponisten nur den berühmten Hummelflug und die „Zarenbraut“. Mit kindlicher Neugier, aber auch einer Portion Skepsis habe ich mich gefragt, wie man in der heutigen Zeit ein Märchen auf die Bühne bringt? Märchen sind meist sehr einfach gestrickt, plakativ, kennen nur gute oder böse Charaktere, alles ist entweder weiß oder schwarz. Es gibt Wunder, Zufälle, Strafen und öfters an den Haaren herbeigezwungene Happyends.

Wie hat der Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov die Herausforderungen des schwierigen Stoffs bewältigt. Es gab keinen Applaus für den Dirigenten, keine Musik, Licht erhellte eine wenig tiefe Bühnenwand. Aus einer Türe trat eine Frau mittleren Alters in grauem Jupe und Bluse, Alltagskleidung. Gefolgt von einem jungen Mann in grauer Trainingshose und hellem T-Shirt. Er setzt sich auf den Boden und starrt mit leerem Blick auf den Boden. Die Frau scheint bedrückt-nervös, zündet sich eine Zigarette an. Dann beginnt sie zu sprechen: Mein Sohn ist ein Autist. Ich will versuchen, ihn zu heilen, indem ich ihm das Märchen vom Zaren Saltan erzähle. Der Zuschauer versteht erst, als die Handlung einsetzt, dass die Frau, die Zarin Militrissa, der junge Mann ihr Sohn Guidon ist.

(c) Karl und Monika Forster

Dann setzte die Musik ein und die oben geschilderte Handlung nimmt ihren Lauf. Durch den Kniff, dass der Regisseur den „gesunden“ Zarewitsch zum Autisten, aber nicht zur „Missgeburt“ gemäß der Originalhandlung machte, hat er das Schwarzweiß-Schema des Märchens aufgehoben. Und konfrontiert uns mit Autismus. Märchen sagt man nach, dass sie versteckte oder direkte Lehren beinhalten. Der Zuschauer lernt in dieser Aufführung sehr anschaulich, wie sich Autismus äußert. Niemandem in die Augen schauend, nervös an den Leiberl zupfend, sich zu Boden werfend, sich wälzend, tanzend, herumrennend etc etc etc … An dieser Stelle darf, will, muss ich die gewaltige, schauspielerische Leistung von Bogdan Volkov als Zarewitsch Guidon loben. Er hat eine in den Bann ziehende Studie geliefert, die einen unglaublichen Sog erzeugte: Es war schlicht überwältigend und Gänsehaut erzeugend, was der Künstler lieferte, denn sein Gesangspart beginnt erst spät im zweiten Akt. In Wien hat er kürzlich Nemorino gesungen. Sein Tenor beherrscht lyrisch, kann sich auch ohne Mühe über das Orchester behaupten. Volkov wurde mit frenetischem Beifall und vielen dankbaren Bravorufen gefeiert, sozusagen gekrönt.

Als nächstes würdige ich Tatiana Pavlovskaja als Mutter (und Zarin Militrissa), der ein gutsitzender, wenn nötig kräftiger Sopran zu Gebote steht. Sie lebte ohne pompöses Kostüm, die Zarin, aber viel wichtiger war die ihr vom Regisseur zugedachte, um den Sohn besorgte Mutterrolle. Die Künstlerin hat diesen schwierigen Spagat erfolgreich gemeistert und wurde ebenfalls lauthals gefeiert. Damit kommen ich bereits zu den zwei hochkarätig besetzten Nebenrollen, zum Zaren des mit rundem, herrlichem Bass gesegneten Ante Jerkunica und der mit einem frischen, leuchtenden Sopran aufwartenden Schwanenprinzessin der Julia Muzychenko. Das böse, grotesk kostümierte Trio sind dankbare Partien, die von Stine Marie Fischer, Bernarda Bobro und Carole Wilson genüsslich ausgekostet wurden. Evgeny Akimov, Ivan Thirion und Alexander Vassiliev komplettierten das Ensemble.

Der Stimmklang des Chors der Opéra du Rhin tönte ausgewogen-rund. Das Philharmonische Orchester Strasbourg brillierte vor allem in den symphonischen Orchesterstücken zwischen den einzelnen Akten und in den gesangslosen Partien der Handlung, Meeresstimmung, Erwachen am Morgen, Hummelflug etc. Der junge Dirigent Aziz Shokhakimov hatte Orchester, Chor und Solisten überzeugend im Griff. Auch er wurde mit viel Beifall bedacht. Lobend sei zu guter Letzt Elena Zaytseva für die skurrilen Kostüme erwähnt.

Zum Erfolg dieser Produktion haben die Beleuchtung und vor allem die Videos von Gleb Filshtinsky und des Video-Ingenieurs Sergey Rilko beigetragen, manchmal wunderbar poetisch-märchenhaft, dann aufgeregt-wild mit der Humme und noch vieles mehr; sie erlaubten die Öffnung der zu Beginn meiner Kritik erwähnten Bühnenwand, den Blick auf eine leicht ansteigend-hügelige „Landschaft“, vielfältig verwendbar, dahinter die grosse Leinwand.

Schlussbemerkung: ja, man kann auch heute in den Zeiten des Regietheaters ein Märchen aufführen, der Regisseur Tscherniakov hat den Beweis erbracht. La visite de Strasbourg et de la représentation de l’Opéra du Rhin valait le voyage, merci.

Alex Eisinger, 17. Mai 2023

Besonderen Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)


Le Conte du Tsar Saltane (Das Märchen vom Zaren Saltan)

Nikolai Rimski-Korsakov

Opéra du Rhin, Straßburg

Eine Koproduktion von La Monnaie, Brüssel und dem Teatro Real Madrid

Inszenierung und Bühnenbild: Dmitri Tcherniakov

Dirigat: Aziz Shokhakimov

Philharmonisches Orchester Strasbourg