Straßburg: „Parsifal“

Premiere am 26. Januar 2020

Ideenvielfalt und Deutungsschwere

An der Opéra du Rhin de Strasbourg wählte der ausgerechnet mit dem „Parsifal“ erstmalig Wagner inszenierende Japaner Amon Miyamoto einen äußerst komplexen und manches Rätsel aufgebenden Interpretationsversuch mit großer Detailbegeisterung. Er greift die Japan-Begeisterung der nicht nur in Straßburg sehr beliebt gewesenen, aber im letzten Jahr nach schwerer Krankheit verstorbenen ex-Intendantin Eva Kleinitz auf und reichert seine Lesart und Inszenierung des Weltabschiedswerks Wagners mit so vielen Ideen und Überzeugungen an, dass auch dem einigermaßen erfahrenen Wagner-Reisenden erst der Blick in ein zwar nicht ganz aufschlussreiches, aber offenbar für erforderlich gehaltenes Interview mit dem Regisseur im Programmheft hilfreich war. Kleinitz hatte ihn nach einer erfolgreichen Produktion von „Le Pavillon d‘or“ 2018 für eine weitere Oper nach Straßburg eingeladen und sagte erst später, dass es „Parsifal“ sein sollte. Sie fügte hinzu: „Machen Sie ihn, wie Sie wollen!“ Er hat es getan.

Es geht gleich schonmal unverständlich los: Während ein junger Bursche sich mit einem vor dem Spiegel ausziehenden Mädchen prügelt – es ist sogar ein Messer im Spiel – wobei einem Porzellan-Schwan (!) an der Wand der Hals abgeschlagen wird, suizidiert sich ein älterer Man draußen am Fenster der Hütte. Nachdem der Bursche und das Mädchen verschwunden sind, taucht eine unscheinbare Frau mit Taschenlampe auf und sucht etwas. Später werden wir erkennen, dass es sich bei dem älteren Mann um Parsifals Vater Gamuret handelt, der sich nach dem Kampf das Leben nahm, und bei der suchenden Frau um Herzeleide, die nach ihrem verlorenen kleinen Sohn Parsifal Ausschau hält und das unter verschiedensten Bedingungen noch den ganzen Abend tun wird. Wer sich da stritt, kann damit nur Parsifal und Kundry gewesen sein, aus einem früheren Leben, denn nun wird es tatsächlich asiatisch und damit buddhistisch. Miyamoto setzt Gamuret als Reinkarnation des Amfortas sowie Herzeleide als Reinkarnation der Kundry in Szene. Indem Parsifal das ganze Leiden der Menschheit – hier symbolisiert mit der offenen Wunde des Amfortas – auf sich nimmt und um ihre Erlösung sucht, hält Miyamoto den durch Torheit Wissenden für eine buddhistische Figur. Da ist sicher einiges dran, denn Wagner war die sich nicht zuletzt – neben dem Heidentum – auch auf den buddhistischen Kosmos bezogene religiöse Universalität des „Parsifal“ ja ein großen Anliegen trotz der vornehmlich christlichen Symbolik mit Kreuz, Gral, Lanze und Karfreitagszauber.

Der Komplexität der auch dramaturgisch dargestellten Reinkarnation hätte es aber gar nicht bedurft, wenn man einen etwas profaneren, aber viel bedeutenderen Gedanken aufgreift, den Miyamoto in seinem Interview äußert. Mit der Mutter, die bis zum Schluss ihr Kind sucht, möchte er zeigen, dass es viel wichtiger ist als die Erlösung an sich zu suchen, die Liebe zu seinen Nächsten und Mitmenschen zum Ausdruck zu bringen. Er will damit zeigen, dass es sich auch im „Parsifal“ um sehr menschliche Aspekte handelt und dieser damit gar nicht weit von unserer Realität entfernt ist. Damit kann man doch gerade heute viel mehr anfangen. Und es ist wirklich rührend, wie Herzeleide in den oft rotierenden Bühnenbildern von Boris Kudlicka herumirrt, die im Zentrum des Geschehens ein Gemälde-Museum zeigen, das unter dem Titel „Menschlichkeit“ (Humanité) firmiert. Hier hängen dann aber doch ausschließlich Gemälde mit christlichem Content, also Jesus-Darstellungen am Kreuz sowie in vielen weiteren Formen und Facetten, die Spitze der Longinus-Lanze, oder der Gral. Erst später kommt ein Gemälde zur Natur, doch dazu gleich.

Zunächst ist noch Miyamotos Auffassung nachzugehen, dass der „Parsifal“, wie Wagner es selbst zu seinem Bühnenweihfestspiel sowie zu seiner unkomponierten Oper „Die Sieger“ schrieb, essenziell das Thema der Erlösung der Frau aufgreife. So sagt der Regisseur ausdrücklich, dass er die Erlösung der Frau in den Mittelpunkt seiner Inszenierung gestellt habe und zitiert verständlicherweise Kundry, die die schwere Sünde beging, sich über Jesus am Kreuz zu mokieren, dann aber durch die Mitleidstat Parsifals, des „reinen Toren“, vom Fluch erlöst wird. Miyamoto geht sogar so weit zu sagen, dass er Kundry mit Eva Kleinitz assoziiert habe – in diesem Kontext nicht unbedingt nachvollziehbar – und damit ihr seine Inszenierung widmete, das nun vollkommen verständlich. Eva habe im Hinblick auf die Erlösung der Frau offenbar sehr seine Idee geschätzt, die erlöste Kundry am Schluss als weißen Engel vom Bühnenboden ein- und wieder entschweben zu lassen, was aufgrund der Publikumsreaktionen in meiner Nähe wohl nicht verstanden wurde und auch recht skurril wirkte.

In einem dritten Konzeptstrang thematisiert der Regisseur die – ja nicht nur – japanische Überzeugung, dass der Mensch eins ist mit der Natur. Diese wünscht sich Harmonie. Das ostasiatische Land ist bekanntlich starken Natureinflüssen ausgesetzt. Man denke nur an die Erdbeben. Miyamoto bringt einen zumindest für den Nomalbesucher nicht erklärbaren Affen in die Handlung, eine Mischung aus Schimpanse und Orang-Utan, aber als Zweibeiner. Er ist Symbol der Natur, mit Referenz an das sog. Ramayana des Hinduismus zu verstehen, wo der Affengott die Vergöttlichung der Naturphänomene symbolisiert sowie eine mysteriöse Macht, die sich hinter ihnen verbirgt. Damit spricht der Regisseur, konkreter betrachtet, das durchaus relevante Phänomen an, dass der Mensch in seiner Evolution immer mehr den Kontakt zur Natur verloren hat und sich nur noch voll und ganz auf seine eigenen Kräfte verlässt. Der Affe führt hingegen Parsifal wieder in die Unschuld zurück, er leitet ihn – tritt zum ersten Mal auf, als dieser den Speer zu „Den heil ‘gen Speer, ich bring ihn euch zurück“ im 3. Aufzug hebt. Und damit wird auch die Verbindung zum einzigen Bild in der Ausstellung hergestellt, welches keine christlichen Themen anspricht, das Gemälde eines wilden grünen Dschungels. Schon die Kinder, die Miyamoto im 1. Aufzug durch das Museum wandern lässt, standen verwundert vor ihm.

Im Finale wird es tatsächlich zu einem Dschungel, in das der Affengott Parsifal entführt – zurück also in die Natur, aus der der Mensch bekanntlich kommt, völlige Reinheit, losgelöst von allen Gralsverpflichtungen, Stammes- oder Sektenzwängen. Gleichzeitig findet Herzeleide ihren kleinen Sohn wieder, der Parsifal immer begleitete, sich in den Speer Klingsors warf, um ihn zu retten, und im Karfreitagszauber wieder zum Leben erwachte. Das war letztlich doch beeindruckend und eine ganz neue Interpretation, wenn auch erst nach Lektüre des Interviews ex post verständlich. Miyamoto verbindet also durchaus eindrucksvoll Mystik mit Realität. Das Ganze wird immer wieder auf eine universal-kosmische Dimension gehoben, indem man ins All fährt, die blaue Erde, Planeten und Sternnebel sieht, um dann kurz darauf wieder auf die Erde gezoomt zu werden – ein nicht ganz neuer, aber stets wirksamer Regieeinfall.

Natürlich fehlen noch ein paar Worte zur Zauberwelt Klingsors. Er tritt zu Beginn des 2. Aufzugs als Museumsdirektor auf und will Herzeleide nicht einlassen, aus einfachem Grund: Auf der Hinterseite hat er sein Überwachungssystem mit mehreren Monitoren installiert und drei dunklen Schergen, die auf Befehl die völlig verängstigte Kundry aus einer tristen Betonnische unten nach oben zerren. Modernste IT-Instrumente, die Schergen werden dennoch mit Schwertern losgeschickt – etwas albern. Eine Brutalo-Nummer mit Kundry folgt und dann ein ansprechender Zaubergarten in Moulin Rouge-Ästhetik mit einer großen Orchidee im Zentrum. Die Choreografie der attraktiven Blumenmädchen ist ebenso ansprechend wie die auch sonst passende und teilweise fantasievolle Kostümierung durch Kaspar Glarner. Gurnemanz sieht allerdings aus wie ein klassischer Jesus auf Prediger-Tour. Felice Ross schafft immer wieder treffliche Beleuchtungsmomente, um die oft wechselnden Bühnenbilder ins dramaturgisch gerechte Licht zu setzten.

Noch ein Wort zur Gralserhebung im 1. Aufzug. Hier verschwinden die Museumsbilder und machen Platz für dunkle Vitrinen mit Torsi und Extremitäten des ans Kreuz geschlagenen Jesus, also wieder ausschließlich christliche Elemente, wobei Miyamoto durchaus richtig betont, dass Wagner das Wort „Christ“ nicht einmal im Text bringt. Wieder einmal muss sich der arme Amfortas zum Blutabzapfen anstechen lassen. Das bürgert sich mittlerweile immer mehr ein und hat eigentlich mit der Geschichte nichts zu tun, denn Amfortas ist nicht der Gekreuzigte. Dieser ist auch keiner Kundry verfallen, der Amfortas erst viel später zum Opfer wird und dabei den Speer verliert, welcher das Blut Jesu wiederum lange davor strömen ließ. Zudem fehlt den Gralsrittern der Speer, denn den Gral – mit dem Blut – haben sie ja! Ich vermute eher, dass Regisseure diese Blutszenen wegen ihrer Leidenshärte und Optik spannend finden und sie deshalb inszenieren. Zuletzt fallen mir dazu ein: Lombardero in Buenos Aires, Laufenberg in Bayreuth, nun Miyamoto in Straßburg und vor ein paar Tagen auch Vick in Palermo. An Skurrilität kommt in Straßburg hinzu, dass der schon wie eine Leiche aussehende Titurel das Blut des Amfortas auch noch trinkt…

Lange Rede kurzer Sinn: Was Miyamoto hier zeigte, reichte für mehrere „Parsifal“-Inszenierungen und wirkte aufgrund sich teilweise überlagernder Themen auch dramaturgisch nicht durchgehend konsistent und bisweilen unverständlich. Dennoch waren interessante Ansätze zu sehen. Man kann dem Regisseur sicher nicht Fantasielosigkeit unterstellen, allenfalls eine sicher gut gemeinte Übermotivation bei seiner ersten Wagner-Arbeit.

Unter den Sängern ragten für mich insbesondere Thomas Blondelle als Parsifal und Markus Marquardt als Amfortas hervor. Der jung wirkende Tenor überzeugt wegen seines emphatischen Spiels durch ein starkes Charisma bei den komplexen Anforderungen, die von der Rolle des Titelhelden hier verlangt werden. Zudem besitzt sein Tenor starke Ausdruckskraft, Substanz und auch immer wieder schöne tenorale Momente, auch ein gutes Legato. Im Wagner-Fach hat er bereits den David, Erik, Loge und Claudio („Liebesverbot“) gesungen, und ich bin mir sicher, er wird hier seinen weiteren Weg gehen können. Markus Marquardt ist schon lange auch als guter Wagner-Sänger bekannt und singt den Amfortas mit klangvollem Bassbariton bei bester Diktion und mit guten Höhen. Seine Darstellung der Rolle macht alle drei Auftritte zu starken Momenten des Abends.

Ante Jerkunica bringt für den Gurnemanz ein enormes Bassvolumen auf die Bühne, welches aber meines Erachtens eines gewissen Schliffs bedarf. Die Stimme klingt bisweilen etwas harsch, und es mangelt an Sanftheit und Wärme für diese Rolle. Christianne Stotijn singt die Kundry mit einer leuchtenden und facettenreichen Mittellage bei guter Diktion, stößt vokal bei den dramatischen Momenten jedoch an ihre Grenzen, wo auch ein gewisses Vibrato hörbar wird. Darstellerisch ist sie sehr überzeugend und offenbart viel Empathie mit Parsifal und dem Kind. Konstantin Gorny gibt einen imposanten Titurel, vor allem darstellerisch. Simon Bailey ist ein energischer, finsterer Klingsor mit resolutem Spiel und einem prägnanten, eher hellen Bassbariton.

Unter den Nebenrollen kommen viel Sänger aus dem Openstudio der Opéra nacional du Rhin, so Gautier Joubert als 2. Gralsritter, Claire Péron als 2. Knappe und 5. Blumenmädchen, Tristan Blanchet als 3. Knappe, Thomas Kiechle als 4. Knappe und Julie Goussot als 4. Blumenmädchen. Sie alle, ebenso wie Moritz Kallenberg als 1. Grasritter, Michaela Schneider als 1. Knappe, Francesca Sorteni als 1. Blumenmädchen, Anais Yvoz als 2. Blumenmädchen, Marta Bauzà als 3. Blumenmädchen und Michaela Schneider als 6. Blumenmädchen und Stimme aus der Höhe machten ihre Sache gut bis sehr gut. Eine großartige Leistung ließen der Chor der Opéra nacional du Rhin unter der Leitung von Alessandro Zuppardo und der Chor der Opéra de Dijon unter der Leitung von Luciano Biblioni hören.

Der Lette Marko Letonja dirigierte das Orchestre philharmonique de Strasbourg mit getragenen Tempi in den Randaufzügen und gut dosierter Dynamik im Mittelaufzug. Er konnte mit seiner großen Kenntnis des Werks ein transparentes und facettenreiches Klangbild erzeugen, welches auch die gute Wagnererfahrung und große musikalische Qualität des Straßburger Orchesters in der wunderschönen Opéra du Rhin, die letztes Jahr von der „Opernwelt“ zum Opernhaus des Jahres gewählt würde, einmal mehr unter Beweis stellte. Dabei kam diesem „Parsifal“ wiederum die wunderbare Akustik des Hauses zugute. Starker und langer Beifall.

Fotos: Klara Back

Klaus Billand/20.3.2020

www.klaus-billand.com