Lüttich: „Don Giovanni“

Wiederaufnahme-Premiere: 13.05.2022

Umtriebiger Bürohengst in Lüttich

Lieber Opernfreund-Freund,

die „Oper aller Opern“ ist derzeit an der Opéra Royal de Wallonie-Liège in Lüttich zu sehen. Jaco van Dormael zeigt eine für dieses Haus ungewöhnlich moderne Lesart und auch das energiegeladene Dirigat von Christophe Rousset haucht der oft gehörten Partitur neues Leben ein.

Der Belgier Jaco van Dormael ist von Haus aus Filmregisseur und schreibt Drehbücher und das merkt man seiner Interpretation von Mozarts Don Giovanni auch an. Wie ein Filmset kommt die Kulisse daher, die Vincent Lemaire auf die Bühne des Opernhauses in Lüttich gestellt hat. Sie zeigt ein Großraumbüro vor Wolkenkratzerkulisse, auf den zahlreichen Bildschirmen laufen die Aktienkurse. Don Giovanni wird zum Bürohengst, ständig auf der Jagd nach Frauen und dem prallen Leben. Ob das seine Kolleginnen Donna Anna und Donna Elvira sind oder die Raumpflegerin Zerlina ist, ist zweitrangig. Auch dass er dabei über Leichen geht, wird zur Nebensache in der Inszenierung, die bereits 2016 in Lüttich Premiere hatte, ebenso rückt die Botschaft der Oper in den Hintergrund: die letzte Szene, Moral von der G’schicht, ist gestrichen. Stattdessen setzt van Dormael auf vordergründige Bebilderung, bemüht effektvoll Rooftop-Swimmingpool und Spiegel und zeigt Don Giovanni nicht eindimensional als Bösewicht, sondern als genusssüchtigen, koksenden Lebemann, der auch an Nyotaimori, dem Essen von nackten Frauenkörpern, Gefallen findet.

Gleichermaßen forsch geht Christophe Rousset im Graben die Partitur an, wählt flotte Tempi, die die Musik zwar frisch und lebendig erscheinen lassen, doch mitunter auch für Koordinationsdefizite mit dem Sängerstab sorgen. Den Farbenreichtum von Mozarts Meisterwerk legt er jedoch aufs Vortrefflichste frei mit seinem energischen Dirigat, da mag der eine oder andere Wackler verziehen sein. In der Titelrolle brilliert der aus einer Musikerfamilie stammende Davide Luciano, zeigt den Lustmolch eben nicht nur mit der einen lüsternen Facette, sondern vielmehr die zahlreichen Farben seines eindrucksvollen Baritons. Dabei macht er im Anzug wie im Bademantel (Kostüme: Fernand Ruiz) eine gleichermaßen gute Figur. Laurent Kubla ist ihm als ergebener Leporello ein solider Partner, bleibt im Spiel allerdings recht hölzern. Maria Grazia Schiavo verzaubert mich als Donna Anna mit ihrem betörenden Sopran voll feinster Höhe und geschmeidiger Geläufigkeit; José Maria Lo Monacos Donna Elvira ist optisch wie stimmlich ein gelungener Gegenpart: satt in der Tiefe, voller Furor in ihren Rachegedanken.

Der feine, kultivierte Tenor von Maxim Mironov ist wie gemacht für Don Ottavio, Shadi Torbey ein toller Komtur mit eindrucksvollem Bass. Überraschung des Abends ist für mich neben dem grandiosen Davide Luciano der Masetto von Pierre Doyen. Der aus Frankreich stammende Bariton singt und spielt die von der Regie als Hausmeister gezeichneten Figur voller Inbrunst und ansteckender Spielfreude, imposantem Volumen und komödiantischem Talent. Dass Sarah Defrise als seine Zerbinetta sehr zum Tremolieren neigt und bisweilen allzu soubrettenartig daherkommt, ist der einzige Wermutstropfen, von dem ich berichten kann. Gefallen hats mir trotzdem – ein unterhaltsamer Opernabend geht nach gut dreieinhalb Stunden unter begeistertem Applaus und vor voll besetztem Haus zu Ende.

Ihr
Jochen Rüth

14.05.22

Die Fotos stammen von J. Berger – © ORW-Liège