Lüttich: „Suor Angelica“ & „Mese Mariano“

Premiere am 26.01.2022

Von Müttern, die keine sein durften

Lieber Opernfreund-Freund,

eine veritable Rarität gibt es derzeit in Lüttich zu erleben. Dort hat man Puccinis Nonnendrama Suor Angelica den nahezu nie gespielten Mese Mariano seines Landsmannes Umberto Giordano zur Seite gestellt, den man hierzulande eigentlich nur für seinen Andrea Chénier kennt. So ähnlich die beiden Werke in ihren Sujets sind, so unterschiedlich ist ihre musikalische Umsetzung. Und das arbeitet Oksana Lyniv am Pult ganz hervorragend heraus.

Marienmonat ist der deutsche Titel von Umberto Giordanos nur rund 40minütigem Einakter, 1910 in Palermo uraufgeführt (also sieben Jahre VOR Puccinis Trittico, aus dem Suor Angelica stammt), 1913 nochmals revidiert, der seither kaum ein Dutzend verbriefter Aufführungen erleben durfte. Die Kurzoper, zu der Salvatore di Giacomo, der Dichter der gleichnamigen Vorlage, auf Giordanos bitten hin das Libretto verfasst hatte, erzählt die Geschichte von Carmela, die Jahre zuvor ledig Mutter und gezwungen wird, das Kind ins Waisenhaus zu geben. Als sie es an Ostern besuchen will, ist es in der Nacht zuvor gestorben. Doch die Nonnen, die die Waisen betreuen, bringen es nicht übers Herz, Carmela die traurige Nachricht zu überbringen. Stattdessen erzählen sie ihr, ihr Sohn müsse mit dem Chor für die Aufführungen im anstehenden Marienmonat proben. So verlässt Carmela enttäuscht das Waisenhaus, ohne das wahre Schicksal ihres Sohnes zu kennen.

Im Gegensatz zu Puccini, der in seiner nach der Pause gespielten Suor Angelica von Beginn an auch musikalisch auf eine gewisse Dramatik setzt, zeigt Giordano in seiner Komposition die volle Bandbreite seines kompositorischen Könnens: den Anfang macht ein fröhlicher, fast liedhafter Beginn (herrlich umgesetzt vom von Véronique Tollet betreuten Kinderchor), gefolgt von der dramatischen Erzählung Carmelas. Das sich anschließende melancholische Intermezzo erinnert im Aufbau ein wenig an das Zwischenspiel aus Umberto Giordanos Fedora, ehe zarte lyrische Klänge das kurze Stück ausklingen lassen. Ganz ohne klanglichen Bombast zeichnet Giordano so das Drama, das sich aus der Geschichte selbst ergibt. Ähnlich verfährt das Produktionsteam rund um Lara Sansone. Die Italienerin unternimmt gar nicht den Versuch, das unbekannte Werk umzudeuten, lässt in lieblicher Kulisse mit blauregenbehangener Pergola spielen (Bühne: Francesca Mercurio), was in scharfem Gegensatz zu dem steht, was auf der Bühne passiert – und dem Geschehenen so noch mehr grausame Dramatik verleiht.

In Suor Angelica hingegen setzt Sansone verstärkt auf Effekte. Die Bühne verwandelt sich vom Kreuzgang zu Klostergarten und Nonnenzelle und wieder zurück, an Grablichter erinnernde Kerzen verströmen in der Schlussszene spärliches Licht und mit dem Schlussbild, einer Madonnenvision der sterbenden Angelica, schrammt Lara Sansone, die auch Schauspielerin ist, haarscharf am Kitsch vorbei. Ganz und gar nicht kitschig ist die Interpretation Angelicas von Serena Farnocchia, die am gestrigen Abend in beiden Rollen debütiert. Sie legt die Nonne nicht als eingeschüchterte Gestalt an, sondern zeigt sich auch stimmlich streitbar gegenüber der hartherzigen Fürstin. Angelicas Ausbrüche haben bei der Italienerin etwas unglaublich Verzweifeltes, fast Hysterisches; das mag nicht immer sauber ausgesungen sein, ist aber eine umso glaubhaftere Darstellung einer Mutter, die nie eine sein durfte. Ergreifend! Als Carmela in der ersten Hälfte des Abends schlägt Farnocchia zartere Töne an, mischt ihren farbenreichen Sopran mit einer Spur Verzweiflung und ist auch da vollends überzeugend.

Gütige Oberin bei Giordano und auch nach Jahren noch in ihrer Hartherzigkeit gefangene Fürstin ist Violeta Urmana, die als Zia Principessa von Teresa Acone in ein golddurchwirktes Gewand mit Mühlsteinkragen gesteckt wird, das an eine Rüstung erinnert. Ihr satter Mezzo braucht ein paar Takte, um warmzulaufen; dann zeigt die Litauerin die volle Bandbreite ihrer Kunst von zart bis hart, legt tiefes Mitgefühl ebenso überzeugend in ihre Stimme, wie bedingungslose Unnachgiebigkeit und Kälte. Der facettenreiche Mezzosopran von Sarah Laulan gefällt mir als Suor Pazienza ebensogut wie als Suora Zelatrice, der von Aurore Bureau ist wie gemacht für die ehrwürdige Contessa bei Giordano oder die Maestra delle Novizie bei Puccini. Die Deutsch-Französin Morgane Heyse als Suor Genoveva begeistert mich regelrecht mit ihrem frechen Sopran und ihrer ansteckenden Spielfreude. Komplettiert wird das ausgezeichnete Ensemble durch die exzellent singenden Chordamen (MdC: Denis Segond).

Sie merken, liebe Opernfreund-Freundin, der Abend ist fest in Damenhand. Und das ist auch am Pult nicht anders. Die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv leitet versiert durch den Abend, kitzelt die Farben und Stimmungen aus Giordanos Partitur, verfällt bei Puccini ins typische Schwelgen, ohne ihn weichzuspülen und gibt auch der klanglichen Wucht genügend Raum zur Entfaltung. Der Abend, der die ungleiche und doch ähnliche Geschichte von zwei Frauen erzählt, die die Büßerrolle annehmen, in die die Gesellschaft ihrer Zeit sie zwingt, bewegt zutiefst. Das Publikum ist hörbar ergriffen. Da trifft es sich gut, dass das Theater ab dem Wochenende wieder vor 700 statt vor 200 Zuschauern spielen darf – die Chancen auf ein Ticket für diesen kompakten Doppelabend, Rarität inklusive, sind also gar nicht so schlecht.

Ihr
Jochen Rüth

27.01.2022

Die Fotos stammen von Jonathan Berger.