Lüttich: „La fanciulla del West“

Erlösung der Erlöserin

Das Libretto für Puccinis siebte Oper schrieben Guelfo Civinni und Carlo Zangarini nach dem Schauspiel The Girl of the Golden West von David Belasco. Die Uraufführung fand am 10. Dezember 1910 an der Metropolitan Opera statt – Dirigent war Arturo Toscanini, die männliche Hauptrolle sang Enrico Caruso. Puccini befand sich zuvor auf einer langen Reise durch die Amerikas, um durch seine Gegenwart seine Werke auch dort populär zu machen. Dabei stieß er im Theater in New York auf das Schauspiel. Die Amerikaner versprachen sich von der Veroperung des Western-Stoffes einen Schritt zur Schaffung einer Gattung „Amerikanische“ Oper. Heraus gekommen ist der erste Western oder Spaghetti-Western, dem später noch viele folgen sollten. Allerdings nicht als Oper, sondern auf der Kinoleinwand, vor allem als auch dort mit dem Tonfilm die Musik eingezogen war.

Der Regisseur Lorenzo Mariani thematisiert im Programm die Bezüge des Opernstoffs zur heutigen Welt; und da gibt es zwischen der historischen Zeit der Handlung im kalifornischen Goldrausch um 1850 und heute immer noch etliche. Mariani thematisiert diese Zeitbezüge allerdings in einer Regiearbeit nicht und verlegt die Handlung daher auch nicht in die Jetztzeit (eine Manhattan-Bar als Spielort würde ihn abstoßen, schreibt er). Alle Dekors (Maurizio Balò) und vor allem die aussagekräftigen Kostüme (Gabriel Berry) sind der historischen Zeit nachempfunden. Mariani inszeniert die Gegenwart also nicht in das Stück hinein, sondern überlässt es seinen Zuschauern, die Parallelen zu ziehen. Und die haben nun die Wahl, sich die Oper als gut gemachte, letztlich konventionelle Produktion anzuschauen oder sich die Zeitbezüge selbst herzustellen. Mariani selbst als Sohn von (italienischen) Einwohnern in Amerika geboren, hält sich bei allen sozialkritischen Aspekten der in der Oper gezeigten Einwandererwelt zurück. Ausbeutung durch die Staatsgewalt (Sheriff) oder die Finanzwelt (der Wells-Fargo-Agent Ashby treibt den Sheriff an!) oder die Unterdrückung der Indianer (in der Form des indianischen Dienstmädchens Wowkle und ihres trunksüchtigen Mannes Billy Jackrabbit) werden zwar nicht ausgeblendet, aber auch nicht beleuchtet. So hat man es an der Lütticher Oper letztlich mit einer „Heile-Welt-Geschichte“ zu tun.

Maurizio Balò hat naturalistische Bühnenbilder für die drei Akte entworfen. Im ersten Akt steht der Saloon „Polka“ in einem großen Steinbruch, der durch das Schürfen der Goldgräber entstanden ist. Es handelt sich gewissermaßen um den Mehrzwecksaal der Gemeinschaft der Abenteurer. Ausschank, Spielhölle, Bibelsaal in einem. Viele Kisten stehen dort herum. Zuerst holen die Männer dort ihre Gebetbücher heraus; als aber dann zur Jagd auf den Gangster Ramerrez geblasen wird, finden sich auch genügend Kisten mit Gewehren: Katechismus und Knarren. (Ein Hinweis auf das moderne erzkonservative Amerika? Ob hat das der Regisseur so gemeint hat?) Im zweiten Akt ist aus Minnies Häuschen ein Zimmer mit Tisch und Himmelbett, Ofen und Kommode auf eine kleine erhöhte Spielfläche aufgebaut. Wieder steht ein Haufen Kisten herum, die diesmal dazu dienen, dass Ramerrez alias Dick Johnson auf das Himmelbett steigen kann, um sich vor dem eindringenden Sheriff zu verstecken. Minnies Zimmer stellt eine kleine heile Welt da, die nicht von Bestand ist, da der Bandit Ramerrez, in den sich bekanntlich die Titelheldin verliebt hat, und der eifersüchtige Sheriff Jack Rance, der die für die italienische Oper so typische Dreierkonstellation ergänzt, in ihr Leben eingedrungen sind. Zum Pokerspiel zwischen dem Sheriff und Minnie um das Haupt des Banditen und um sie selbst wird das Mobiliar der Minnie zur Seite herausgezogen. Nur der Tisch bleibt auf der nackten Bühne stehen, an welchem Minnie den Sheriff beim Spielen betrügt. Eine ganz starke Szene!

Carl Tanner (Dick Johnson/Ramerrez); Deborah Voigt (Minnie)

Im dritten Akt auf freiem Feld ist die Zahl der Kisten makaber auf zwei beschränkt: den Sarg, den man schon für Ramerrez gezimmert hat und eine kleine Kiste, auf die er zwecks Erhängen mit der Schlinge um den Hals gestellt wird. Die kleine Kiste sollte dann weggestoßen werden. Aber wie so oft in Kriminalgeschichten muss erst noch länger mündlich abgerechnet werden. Da erscheint Minnie auf einem gutmütigen, aber echten Pferd, hält mit einer Pistole die schwer bewaffneten Goldgräber in Schach, die den Ramerrez hängen wollen. Die Glaubwürdigkeit einer solchen Szene ist rein formal sehr begrenzt, ergibt sich aber hier aus der Tatsache, dass sie als Betreuerin des „Polka“ ja alle ihre Schäfchen persönlich kennt und ansprechen kann; sie hat allen schon einmal geholfen, ihnen einen Brief vorgelesen, einen geschrieben oder den Katechismus erklärt – ein Gutmenschin eben. So lassen die Goldgräber von Ramerrz ab. Sie zieht mit ihm alias Dick Johnson in eine andere bessere Welt. Erlösung der Erlöserin! Das ist der große Bogen, den die Regie aus dem Stück herausarbeitet. Vom ersten Auftritt der Minnie, als sie ihren Schützlingen aus Psalm 51 vorliest und verspricht, dass auch die Übeltäter unter ihnen göttliche Gnade erfahren werden bis zur letzten Szene: Ausritt ins Licht. Das hat natürlich einen nicht enden werdenden Zeitbezug.

Willem van der Heyden (Nick); Deborah Voigt (Minnie); Roger Joakim (Sonora); Carlos Almaguer (Sheriff Jack Rance)

Hätte man bereits 1910 Filmmusik gebraucht, mit der Orchestermusik zur Fanciulla del Westhätte Puccini als deren Erfinder gelten müssen. Anders herum kann man bei den ersten großen Tonfilmen annehmen, dass sie an der Puccini-Musik ebenso gesaugt haben wie an der spätromantischen großorchestrierten Programm-Musik. Puccinis Musik zur Fanciulla steht in unmittelbarer Folge zu seiner Tosca und Butterfly, sogar mit der unmittelbaren Wiederaufnahme von musikalischen Floskeln aus der ersten. Die Süßlichkeit der Butterfly-Musik wird etwas herber, die Gewalttätigkeit der Scarpia-Musik weiter an die Grenzen der Tonalität getrieben. Das Orchester der Opéra Royal de Wallonie unter der Leitung von Gianluigi Gelmetti spielt schon die ersten Akkorde der Ouvertüre mit scharfen Konturen und treibt dann aus dem Graben die Handlung dramatisch programmatisch an. Kampfszenen und Emotion führen bis zum entfesselten Aufspielen des Orchesterapparats, der aber immer sauber und präzise intoniert. Tatsächlich ist hier viel Filmmusik vorweggenommen – auch in der thematischen Durchdringung. Besonders spannend sind die ostinaten Bass-Figuren beim Pokerspiel, gewissermaßen der Angelpunkt der Handlung, die von der Pauke übernommen werden.

Deborah Voigt (Minnie); in der Schlinge: Carl Tanner (Ramerrez)

Der Chor besteht nur aus Bass- und Bariton-Sängern, was realistisch für das (fast) frauenlose raue Männerumfeld ist. Durch Minnies Ansprache an ihre Gemeinschaft wird aber die Masse auch aufgelöst und in Einzelpersonen angesprochen, was sich in Lüttich in acht Chorsolisten manifestiert, die namentlich zugeordnete kleine Rollen haben, aber zur naturalistischen Beschreibung des Umfelds wesentlich beitragen. Marcel Seminara hat den Chor einstudiert, der auch eine beträchtliche darstellerische Leistung erbringt und in dieser Choroper einen großen Stellenwert besitzt.

Stimmlich dominiert das prächtig besetzte Trio der Hauptrollen: Sopran, Tenor, Bariton. Ihr Debut an der ORW gab Deborah Voigt als Minnie. Intonationssicher, aber nicht unangestrengt sang sie die Spitzentöne der schweren Partie, nahm sich im ersten Akt im Parlando sehr zurück, um in zweiten Akt mehr Dramatik und schöne Ausdruckskraft zu gewinnen. Ihr Landsmann Carl Tanner als Ramerrez/Dick Johnson entwickelte sein kraftvolles Tenormaterial aus einer sonoren baritonalen Mittellage zu strahlenden Höhen mit schönem Schmelz ohne jede Schärfe. Den Sheriff Jack Rance als „bösen Gegenspieler“, in welcher der Scarpia unschwer wiederzuerkennen ist, gab der mexikanische Bariton Carlos Almaguer mit donnernd finsterem Bariton und adäquater Ausstrahlung. In den Nebenrollen konnten Luciano Montanaro mit mächtigem Bass als Ashby und Roger Joakim mit rundem voluminösen Bassbariton als Sonora gefallen. In weiteren Rollen der helle Tenor von Willem van der Heyden als Wirt Nick, die Mezzosopranistin Alexise Yerna als Wowkle und Chris de Moor als betrunkener Jackrabbit.

Das Publikum im ausverkauften Hause feierte die Ausführungen mit lang anhaltendem Beifall. Die Fanciulla wird nun noch am 26. und 28. Februar sowie am am 2. und 5. März gegeben.

Manfred Langer, 24.02.2012
Fotos: © Jacques Croisier