Lüttich: „I Capuleti e i Montecchi“

Stehtheater pur

Die ORW spielt in dieser Spielzeit im „Palais Opéra“, während das alte Opernhaus der längst fälligen Renovierung unterzogen wird. Palais Opéra ist ein Euphemismus für ein Opernzelt in einem ziemlich heruntergekommenen Stadtviertel. Komfortabel sind die schmalen Opernsessel nicht, und Opernpuristen werden natürlich anmerken, dass der Geräuschpegel der Lüftungsanlage von innen und des Straßenverkehrs von außen bis ins Mezzoforte hineinwirkt. Ich konnte mich außerdem des Gefühls nicht erwehren, dass die Sänger dezent verstärkt wurden. Aber immerhin: es wird während der Renovierungsarbeiten Oper gespielt

Da ein Opernzelt kaum über Bühnentechnik verfügt, wurde eine geeignete Produktion aus Ravenna (2005) übernommen, die aber nicht nur fast ohne Bühnentechnik und Requisiten auskam, sondern gleich auch noch ohne Personenregie. Regie bei der Originaleinstudierung führte die Intendantin des Ravenna Festivals, Maria Cristina Mazzavillani Muti, Ehefrau von Riccardo Muti.

Der Bühnenprospekt bestand aus einer großen weißen Projektionsfläche, auf die das Bühnenbild projiziert wurde. Damit das nicht zu einfach und eintönig wirkte, wurde in immer häufigeren Wechsel die Szene verändert, meistens dramaturgisch völlig unmotiviert auch inmitten von Arien oder Ensembles. Dazu wurden von oben am vorderen Bühnenrand und in der Bühnenmitte als weitere Projektionsflächen Stoffstreifen herabgerollt, wodurch eine brauchbare Raumgliederung erreicht wurde. Für die Zuschauer in der vorderen Hälfte wirkte die Unschärfe der Projektion allerdings ziemlich störend; hier hätte man mit mehr Pixeln arbeiten müssen. Aber vielleicht gab es die 2005 noch nicht. Die Projektionen wurden meistens rein illustrierend eingesetzt (Verona und Umgebung), dazu einige Fantasieanimationen und nur ganz wenige Male assoziative Videos Gedanken und Vorgänge unterstreichend. Diese Bilder umrahmten prinzipiell in geeigneter Weise das sehr konventionelle, um nicht zu sagen langweilige Regiekonzept und blieben immer weit weg von dem unsäglichen Videogeflimmer, mit dem deutsche Jungregisseure häufig das Publikum verwirren. (Bühnenbild: Ezio Antonelli)

An Requisiten wurden nur ab und an von den Seiten Treppen herange-schoben, auf deren Podest einmal der Capellio thronte, ein andermal die Harfenistin mit ihrem Arbeitsgerät zur Begleitung der Giulietta bei ihrer Auftrittsarie (sehr schön!) und dann auch wieder einfach als erhobenes Podium für einen Stehgesang. Der schien allerdings gepaart mit schwachen schauspielerischen Leistungen zum Rückgrat der Regiearbeit erhoben. So spielen Amateure bei irgendwelchen Burghofspielen! Die Sänger einzeln oder in einer Reihe parallel zum Bühnenrand oder gar gleich an der Rampe; der Chor marschierte auf, stellte sich zum Singen auf und latschte wieder ab, wenn er nicht noch zur Begleitung des nächsten Ensembles gebraucht wurde. Mimik, Standardgestik und Bewegungsabläufe wirkten hölzern und ungekonnt, Fechtszenen konnten als Karikatur derselben aufgefasst werden. Die aufwändig prächtigen Kostüme im Renaissance-Stil (Alessandro Lai) waren schön gemacht, aber unaufregend.

Der musikalische Teil der Aufführung stand auf hohem Niveau. Chor und Sängerdarsteller waren nicht durch irgendwelche Schauspielerei von der Musik abgelenkt und standen meistens in engem Blickkontakt zum Dirigenten mit dem auf Parketthöhe sitzenden Orchester. Somit waren Bühne und Orchester bestens koordiniert. Luciano Acocelli führte das Orchester sicher: schmissig die Tuttis und einfühlsam die Solobegleitungen der Arien. Maurizio Lo Piccolo überzeugte mit stimmgewaltigem Bass als Opernbösewicht Capellio, Luciano Montanaro mit warmer geschmeidiger Stimme als Frate Lorenzo. Aldo Caputo konnte als Tebaldo nicht voll überzeugen, zu eng in den Höhen und spielerisch ungelenk. Für die erkrankte Laura Polverelli war kurzfristig Sabina Willeit als Romeo einge-sprungen. Sie brachte mit wunderbar klarer Aussprache einen vollen, kernigen, aber nicht immer eleganten Mezzo, was insbesondere in den Duetten neben dem Star des Abends, Patrizia Ciofi, als Gulietta deutlich wurde. Patrizia Ciofi, das war Belcanto vom Feinsten: sie sang mit klarem warmen Sopran von hoher Geschmeidigkeit und Beweglichkeit. Als einzige unternahm sie mit ihrer zierlichen Figur auch darstellerisch etwas und spielte eine zerbrechliche Giulietta. Diese Interpretation schien mir geradezu eine Kopie ihrer Lucia aus Lyon 2006 zu sein, sogar die Ausstaffierung war sehr ähnlich. Überhaupt weist die Personenkonstellation deutliche Parallelen zur Lucia di Lammermoor auf.

Wenn man sich hier und da mal von den Strapazen des deutschen Regie-theaters erholen will, dann bieten sich schon Besuche bei unseren westl- ichen Nachbarn an, aber man muss dabei auch manchen Bühnenstaub in Kauf nehmen. Diese Produktion aber könnte als Indiz dienen, dass in Italien die Opernregie vor sechzig Jahren eingefroren worden ist. Das Werk selbst hat in der Qualität einen deutlichen Abstand zu den häufiger gespielten Werken von Bellini. Schon das Libretto ist ziemlich flach, und die Musik stellenweise stereotyp und floskelhaft. Sollte das Werk Tiefen enthalten, ist es weder dem Dirigenten noch der Regie gelungen, diese sichtbar oder hörbar zu machen

Manfred Langer