Lüttich: „I Pagliacci“

José Cura inszeniert konventionell, aber originell und ohne Stereotypen

Wenn man sich von den Anstrengungen des deutschen Regietheaters erholen will, dann bietet sich immer ein Besuch in den Opernhäusern des benachbarten französisch-sprachigen Auslands an; da wird ein Stoff nur selten gegen den Strich gebürstet und schon gar nicht ein solcher wie der des beliebten Doppelabends von Mascagni und Leoncavallo. José Cura hat dieses Doppel nun an der Opéra Royal de Wallonie in Szene gesetzt und dabei als ein profilierter Sänger von Tenorarien des Verismo selbst die beiden Tenor-Hauptrollen übernommen. Im Rahmen der schön bebilderten Produktion (das Bühnenbild hat er auch entworfen!) hat er eine Reihe recht origineller Einfälle realisiert. Zunächst siedelt der Argentinier Cura die beiden Geschichten am gleichen Ort an, am Caminito in Buenos Aires, in dessen Buntheit links ein kleiner Straßenzug mit Mamma Lucias Wirtschaft aufge- baut ist; im Hintergrund befindet sich eine einfache Holzkirche; rechts eine bunt bemalte Wand; dazwischen ein kleines erhöhtes Podest und die Stühle der Straßenwirtschaft. Die Handlung spielt zu Beginn des 20. Jhdts., einer Dekade sehr starker italienischer Einwanderung nach Argentinien und dort insbesondere in die großen Städte des Nordens. Somit hat die Inszenierung schon einen ordentlichen logischen Überbau.

Das Spiel auf der Bühne beginnt schon vor der Musik. Pietro Mascagni lehnt an einer Wand des Lokals und beobachtet die lebhafte Szene auf dem Plätzchen, aus den Häusern dringt kreischender Streit. Mascagni lässt sich am Caminito zu einer veristischen Oper inspirieren. Die Darsteller des zweiten Teils, der Pagliacci, sind auch schon teilweise als stumm Mitwir- kende auszumachen, so wie in den Pagliacci auch die Darsteller der Caval- leria auf der Bühne stumm übrig geblieben sind und mitwirken. Dieses Konzept sorgt für eine schöne Verklammerung der beiden Stücke, welche durch die Überleitung der beiden Stücke noch verstärkt wird. Nach dem traurigen Ende Turridus geht die Gesellschaft in die Kirche; davor auf dem Platz sitzt während der gesamten Pause auf offener Bühne ein Harmonika-spieler und intoniert so ziemlich alles zwischen Schubert und Tango. Zu Beginn der Pagliacci kommt auch Leoncavallo auf die Bühne. Er ist es, nicht Tonio, der den Vortrag des Prologs übernimmt, dem Bekenntnis des Verismo. Eine glänzende Idee, die allerdings einen Sänger mehr erfordert, der anschließend nur noch Staffage ist. Zuvor wurde der Sarg Turridus aus der Kirche getragen; gleicher Ort; ähnlich grausames Geschehen bis zum „La commedia è finita“. Mamma Lucia, nun als stumme Darstellerin, bedient immer noch die Leute in ihrem Café… Mit Ironie war die Rolle eines der beiden Bauern aus den Pagliacci als Polizist in schöner blauer Uniform umgesetzt. Der trat natürlich auch schon in der Cavalleria auf und war dort als Ordnungskraft ebenso unwirksam wie im zweiten Teil…

Es ist heute nicht mehr so einfach, mit diesen beiden wohl typischsten Exemplaren der im Repertoire überlebenden veristischen Oper noch die gleiche Wirkung zu erzielen wie vor fünfzig oder gar hundert Jahren. Aber José Cura hat das mit seiner Adaptation durchaus geschafft. Dazu trägt nicht nur das in sich schlüssige szenische Konzept der Verklammerung der beiden Opern bei, sondern natürlich auch die schöne Ausstattung (zu welcher Fernand Ruiz die gefälligen ausdrucksstarken Kostüme beigetragen hat), sondern auch die Perfektion des Handwerklichen. Von der zwanglos wirkende Bewegung der Chöre bis zur detaillierten Personenführung und vielen Regieeinfällen wirkt auch das Handwerkliche stets inspiriert und einfühlsam. Cura beweist, dass man mit Klarheit, Eingebungen und Detail freude durchaus noch in konventioneller Manier inszenieren und das Publikum interessieren kann.

Die musikalische Leitung des Abends hatte Paolo Arrivabeni inne, der musi- kalische Director der Opéra Royal de Wallonie, dessen Orchester fulminant aufspielte. Nach Feinheiten in der Partitur der Cavalleria hatte Arrivabeni nicht gesucht, sondern er ließ es ordentlich krachen – wie bei einem italie- nischen Opernorchester eben. Die Partitur der Pagliacci bot da schon wesentlich mehr zum Durchhören. Bei den großen Chorszenen hätte man durchaus ein wenig mehr Präzision wünschen können. Natürlich überstrahlte bei den Sängern der überaus kräftige dunkle Tenor von José Cura, den man aber in den Höhen auch schon strahlender gehört hat. Er sang sowohl den Turridu als auch den Canio/Pagliaccio. Als Santuzza war Marie Kalinine besetzt, die neben ihren schönen innigen Passagen bei den kräftigen Höhen leider eine gewisse Schärfe in der Stimme hatte. Den Alfio gestaltete Elia Fabbian mit kernigem, unkultiviert und bös klingendem Bariton: eine Rollen-typische vokale Besetzung. Für die Lola war mit der jungen Mezzo-sopranistin Alexise Yerna eine wunderbar geschmeidige und gut fokussierte Stimme aufgeboten. Als Mamma Lucia überzeugte die Altistin Mady Urbain. Sämtliche Rollenträger in der Cavalleria wie in den Pagliacci zeigten sich bei guter Bühnenpräsenz schauspielerisch voll auf der Höhe, deutlich mehr noch als was man heute ohnehin erwartet. — In den Pagliacci ließ die Nedda/Colombina der Sofia Soloviy mit ihrem bestens geführten jugendlich dramatischen Sopran keine Wünsche offen. Philippe Rouillon gab als „Leoncavallo“ den Prolog mit sonorem kultiviertem Bariton bei bester Text-verständlichkeit. Gabriele Nani sang mit klang- schönem hellem Bariton den Silvio; und sehr gut gefiel Enrico Casari mit den Kostproben seines sauberen lyrischen Tenors als Beppe/Arlecchino. Marco Danielis Bariton als Tonio/Taddei konnte das hohe Niveau der Vorgenannten hingegen nicht erreichen.

Das Sonntagsnachmittagspublikum im voll besetzten Saal des Lütticher Opernhauses hatte so seine Eigenheiten. Vor Beginn der Vorstellung war verkündet worden, dass die Produktion gefilmt und mitgeschnitten würde, und man bat um Verzicht auf Szenenbeifall und besondere Ruhe. Das hielt aber einige Exemplare des „Tussator vulgaris“ nicht ab, in einen Wettbewerb um das lautstärkste Husten einzutreten. Auch die Regieanweisungen zum Szenenapplaus wurden nicht beachtet, vielleicht einfach deshalb nicht, weil nicht jeder im Publikum Französisch verstand. Aber zum Schluss durfte man dann ja richtig jubeln; das Publikum tat seine Begeisterung in 20-minütigem Applaus kund. Mal sehen, wie die DVD gelingt.

Manfred Langer, 04.12.2012

Die ausdrucksstarken Fotos hat Jacques Croisier zur Verfügung gestellt.