Lüttich: „Les pêcheurs de perles“, Georges Bizet

Premiere: 17.04.2015, besuchte Wiederaufnahme: 08.11.2019

Stimmungsvoll

Lieber Opernfreund-Freund,

Bizets Bühnenwerke hatten neben seinem Gassenhauer Carmen von jeher einen schweren Stand. Über zehn weitere Opern hat der im Alter von nur 36 Jahren verstorbene Komponist hinterlassen und bis heute werden allenfalls seine Perlenfischer aufgeführt. Selbst die galten jahrelang als Rarität, wurden ab und an höchstens konzertant gegeben. Der Blick auf das von Orientalismen durchzogene Werk hat sich aber in den vergangenen Jahren gewandelt: neben kleineren Häusern wie Kaiserslautern, Pforzheim und Zwickau brachten in jüngster Zeit auch das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen und die Staatsoper Berlin die Pêcheurs de perles auf die Bühne, im kommenden Frühjahr steht eine Neuproduktion im Saarland an. Und auch die europäischen Nachbarn im Benelux haben Gefallen an Carmens „kleiner Schwester“ Leïla gefunden; nachdem FC Bergman in der vergangenen Spielzeit an der Vlaamse Opera mit ihrer Umsetzung ein großer Wurf gelungen ist, hat das Königliche Opernhaus der Wallonie in Lüttich ihre 2015 in Zusammenarbeit mit der Opéra Comique in Paris und der Opéra National de Bordeaux entstandene Produktion am gestrigen Abend vor ausverkauftem Haus wiederbelebt.

Im Gegensatz zur umdeutenden und bildgewaltig daherkommenden flämischen Produktion beschränkt sich die Arbeit des renommierten japanischen Regisseurs Yoshi Oïda im Wesentlichen auf das Spiel mit Stimmungen. Die leere Bühne von Tom Schenk verfügt über eine Rampe, von deren hinteren Ende es ins Meer hinab geht, und ist bis auf wenige Requisiten wie angedeutete Stege, von der Decke hängende Bootsskelette und ein paar aufgestellte Muschelkörbe leer – und doch gelingt es dank des ausgefeilten Lichtkonzeptes von Fabrice Kebour, die Geschichte der Männerfreundschaft zwischen Nadir und Zurga, die sich einst in die gleiche Frau, Leïla, verliebten und um der Freundschaft willen geschworen hatten, auf sie zu verzichten, schlüssig zu erzählen. Als sich die junge Frau, die durch ihren Gesang die Götter milde stimmen soll, als jene Leïla entpuppt, kann Nadir seine Gefühle nicht mehr zurückhalten. Zurga – von Eifersucht zerfressen – lechzt nach Rache und verurteilt beide zum Tode. Als er jedoch erkennt, dass ihm Leïla vor Jahren einmal das Leben gerettet hatte, verhilft er beiden zur Flucht und ermöglicht ihrem Glück eine Zukunft dadurch, dass er selbst allein zurückbleibt.

Die Personenführung von Yoshi Oïda ist alles andere als ausgefeilt, gerade in den Massenszenen wird es oft unübersichtlich, da hier der Chor noch durch dazwischen umherspringende Tänzer ergänzt wird. Und doch gelingen dem Japaner, der 1968 von Jean-Louis Barrault zum Theater der Nationen nach Paris eingeladen worden war und seither dort lebt, gerade in den innigeren Momenten starke Bilder, die er immer wieder durch wie en passant eingefügte Aktionen, wie im Hintergrund ins Meer springende Perlentaucher, belebt. Damit liegt er mit der schon lieb gewonnen Tradition des Hauses auf einer Linie, dessen Produktionen sich in den vergangenen Jahren immer wieder aufs Neue durch eine gekonnte Mischung aus Traditionalismus und lebendigen Ideen ausgezeichnet haben.

Die Figur der Leïla tritt über weite Strecken verschleiert auf, so dass sich die französische Sopranistin Annick Massis oft auf ihre ausdrucksvolle und wandelbare Stimme verlassen muss, um der jungen Frau Leben einzuhauchen und deren Gefühle darzustellen. Das gelingt Annick Massis verzüglich! Sicher hat man die Koloraturen dieser Partie schon raffinierter und leichter gehört und auch eine gewisse Schärfe, die Massis‘ Sopran mittlerweile bisweilen beigemischt wird, ist zu hören. Doch auf der anderen Seite gelingen ihr immer wieder betörende, gleichsam schwebende Höhenpiani; Massis verfügt über eine satte und ausdrucksstarke Mittellage – und darüber hinaus über einen schier endlosen Atem und macht so gehörig Eindruck. Die Leïla hat die renommierte Sopranistin im Laufe ihrer Karriere gern und oft gesungen (es gibt CD & DVD einer Produktion in Venedig aus dem Jahr 2004), schon ganz zu Beginn, Anfang der 1990er Jahre, als sie in dieser Rolle am Théâtre du Capitole in Toulouse reüssieren konnte. Von dort kennt sie sicher auch den Dirigenten des gestrigen Abends, Michel Plasson. Der war in Toulouse von 1968 Theaterchef und dirigierte das dortige Orchester, das zu einem der besten französischen zählt, bis 2003. Im Graben der Opéra Royal de Wallonie-Liège, an der er gestern zum ersten Mal überhaupt die Leitung inne hatte, verströmt er mit den Musikerinnen und Musikern einen wunderbar zarten Klang, wagt allerdings musikalisch-satte Ausbrüche ebenso, wie er den Zeitgeschmack und Stoff geschuldeten orientalischen Anklängen Raum gibt. Dabei vergisst Plasson jedoch das Französische der Partitur nie – sondern entfaltet es vollkommen.

Cyrille Dubois enthält dem Publikum zwar den Spitzenton am Ende des berühmten Je crois entendre encore vor, doch was macht das bei der ansonsten makellosen Interpretation des aus der Normandie stammenden Tenors. Sein weiches und klares Timbre strotzt nur so vor Gefühl und in der Duettszene mit Annick Massis laufen beide zu Höchstform auf. Pierre Doyen als sein Freund und Konkurrent zeigt einen eindrucksvollen, emotionsgeladenen, durchdringenden Bariton und kehrt für seine Interpretation des Zurga in die Stadt zurück, in der er einst studiert hatte, ehe es ihn wie die vorgenannten auf die Bretter der international renommiertesten Bühnen zog. Patrick Delcour gehört seit über 20 Jahren zum festen Sängerstamm der Opéra Royal de Wallonie-Liège und ist ein glaubhaft mahnender Nourabad. Die Einsätze des von Pierre Iodice betreuten Chores sind am gestrigen Abend nicht immer ganz sauber, auch würde den Damen ein wenig frischer stimmlicher Nachwuchs nicht schaden – doch das tut dem Genuss des Abends keinen Abbruch. Das Publikum im voll besetzten Opernhaus von Lüttich ist begeistert und applaudiert frenetisch und lang anhaltend nicht nur der Sängerriege, sondern auch dem Stardirigenten sowie dem Regieteam rund um Yoshi Oïda.

Ihr Jochen Rüth 09.11.2019

Fotos © Opéra Royal de Wallonie-Liège