Paris: „Herculanum“

Premiere 8. März 2014

von Félicien David

„Grosse Oper“ mit Vulkanausbruch

Jedes Jahr präsentiert uns das Palazzetto Bru Zane einen vergessenen französischen Komponisten des neunzehnten Jahrhunderts. Letztes Jahr war es Pierre-Louis Dietsch. Sein Vaisseau Fantôme ou Le Maudit des Mers (1840) wurde zusammen mit Wagners Fliegender Holländer gegeben, wonach das Doppelkonzert weiter nach Wien reiste und als viel gelobte Platte erschien (siehe Merker 6/2013). Dieses Jahr wird Félicien David vorgestellt, drei Jahre älter als Wagner und damals in Paris viel erfolgreicher als er. David (1810-1876) ging in die Musikgeschichte ein als „Erfinder des Orientalismus“, denn er komponierte nach einem längeren Aufenthalt in Ägypten „Orientalische Melodien“ und eine „Sinfonische Ode“ Le Désert, die 1844 in ganz Frankreich gespielt wurde und ihm die Tore der Grand Opéra öffnete. Doch seine großen Opern, wie erfolgreich sie auch waren (Wagner verblasste vor Neid), sind vollkommen vergessen. Das hat primär mit ihrer quasi Unaufführbarkeit zu tun, nicht unbedingt mit ihrem Mangel an musikalischen Qualitäten, wie man es bei dem Meyerbeer-Revival der letzten Jahre beobachten kann. Die großen Opern „funktionieren“ auch heute noch, wenn man sie ohne Umgestaltung und massive Kürzungen in ihrer ursprünglichen Form spielt. Für all dieses bürgt das Palazetto Bru Zane, das auch gleichzeitig die Partitur verlegt (Orchester + Klavierauszug) und die Oper nächstes Jahr als Platte + Buch verlegt. Herculanum war 1859 ein Riesenerfolg an der Pariser Oper (64 Vorstellungen im Gegensatz zu 3 x Tannhäuser). Hector Berlioz schrieb in Le Journal des Débats, man habe noch nie etwas Wunderbareres („rien de plus magnifique“) an der Oper gesehen, und er beschrieb im Detail die Kostüme und die „antiken Waffen“. Der Ausbruch des Vesuvs 79 n. Chr. war ein beliebtes Thema „Grand Opéra“, auch wenn er je nach dem politischen Kontext immer anders interpretiert wurde. In Aubers La Muette de Portici (1828) leitete der Vulkan einen Aufstand der Unterdrückten, und die Oper wurde der Funke, der 1830 die Belgische Revolution auslöste. 1859 wollte man die vielen Revolutionen vergessen, und die französischen Komponisten mussten auf ausdrücklichen Wunsch der Kaiserin das Christentum propagieren. So wurde der Vulkanausbruch interpretiert als eine göttliche Strafe und ein moralischer Sieg der unterdrückten Christen über die degenerierten Römer. Félicien David und sein Librettist Joseph Méry erdachten sich ein Drama in vier Akten mit vier Hauptfiguren: die bildschöne, verruchte, aus Babylon kommende römische Königin Olympia (angelehnt bei Kleopatra und der Bérénice von Racine) und ihr genauso verruchter Halbbruder, der Oberpriester Nicanor (in dessen Gestalt dann Satan höchstpersönlich erscheint). Ihnen stehen gegenüber die auch bildschöne, aber reinen und keuschen christlichen Gefangenen Lilia (weiß wie eine Lilie) und Hélios (schön wie die Sonne). Die Handlung benutzt viele Bausteine, die wir auch aus anderen Opern aus der Zeit kennen. Olympia rettet den zum Tode verurteilten Christen das Leben, weil sie sich in Hélios verliebt, den sie mit einem Zaubertrank gefügig macht. Doch dann bebt die Erde. Nicanor vergisst seine Priesterwürde und will Lilia auf dem Altar vergewaltigen – doch dann wird er durch einen Blitz erschlagen, und Satan bemächtigt sich der jungen Frau. Am Ende vergeht die sündige Stadt Herculaneum in den Lavafluten – und die Christen werden im Himmel durch Gott vereint. Genug Stoff für große Rollen, vor allem für Nicanor/Satan und Olympia, die dem berühmten coloratur-contralto Adéalide Borghi-Mamo in die Kehle geschrieben wurde, eine Stimme mit einem legendären Ambitus.

Nicolas Courjal sang Nicanor als ob es die Rolle seines Lebens wäre. Vor zehn Jahren noch ein junger Sänger an der Pariser Oper, hat Courjal inzwischen eine beachtliche internationale Karriere gestartet und vor allem sein Gesangspotential wunderbar ausgebaut. Nun sind die Arien des Satans auch dankbare Bravourstücke, die wahrscheinlich bald Eingang finden werden in das Konzertrepertoire der Bässe auf Suche nach neuen Rollen. Auf die Olympia von Karine Deshayes waren alle gespannt. Deshayes ist seit einigen Jahren eine der leading Ladies der Pariser Oper und bekam im Merker viele Komplimente für ihre Carmen, ihre Cenerentola etc. Doch nach zwei Wochen im Studio, um Herculanum als Platte aufzunehmen, verlor Deshayes kurz vor der Aufführung in der königlichen Oper gänzlich ihre Stimme. Und bei einem Werk, das seit 1859 nicht mehr gespielt worden ist, war natürlich kein Ersatz zu finden. So sprach sie nur (kaum vernehmbar) ihre Dialoge/Rezitative und wurden alle ihre Arien und Duos übersprungen. Was kann man über eine Carmen schreiben, wenn die Habanera, die Seguidilla und die Kartenarie übersprungen werden. Da können sich alle noch so viel Mühe geben – das Werk fällt auseinander. Véronique Gens sang eine berührende und stimmlich perfekte Lila und Edgaras Montvidas einen strahlenden Hélios. Hervé Niquet, eigentlich mehr aus dem Barock-Repertoire bekannt, zeigte großes Gespür für diese Grand Opéra, mit flexiblen Tempi, worin ihm die Brussels Philharmonic und der Flämische Rundfunkchor mühelos folgten. Doch für einen wirklichen Eindruck dieses Werkes brauchen wir die Platte, die nächsten Frühling zusammen mit dem historischen Material in der sorgfältig editierten Reihe „Opéra Français / French opera“ des Palazetto Bru Zane erscheinen wird. In Abwartung dessen kann man sich Karine Deshayes anhören auf ihrer gerade erschienenen Platte „French romantic cantatas“ mit Wahnsinnszenen aus der gleichen Zeit : die Médée und Circé von Luigi Cherubini und vollkommen unbekannte Arien mit Orchester wie Sémiramis von Charles-Simon Catel, Velléda von Xavier Boisselot oder Ariane von Louis-Ferdinand Hérold. Und wer sich wirklich eine Grand Opéra anhören will, der kann in der oben genannten Opernedition des Palazetto den gerade erschienenen Le Mage (1891) von Massenet entdecken. Es ist wahrscheinlich die größte Oper die Massenet je komponiert hat: fünf Akte, sechs Bühnenbilder, 673 verschiedene Kostüme, Ballette, Kriegszenen, Gefangenchöre, Feuer und einstürzende Tempel und zum Schluss die ersten elektrischen Blitze der Pariser Oper. Doch wahrscheinlich weil das Werk als zu deutsch empfunden wurde (der Magier Zarâstra ähnelte Nietsches Zarathustra und die rituell-religiösen Männerchöre Wagners Parsifal) blieb es nicht auf dem Spielplan und wurde durch die zwanzig anderen Opern Massenets verdrängt. Es ist das allererste Mal, dass Le Mage nun als Platte erscheint.

Waldemar Kamer

OPERNFREUND PLATTEN/BUCH TIPP

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