Franco Faccio
Premiere/deutsche Erstaufführung: 03.11.2018
Aus dem Dornröschenschlaf erweckt
Lieber Opernfreund-Freund,
nicht oft hat man die Gelegenheit, ein über fast eineinhalb Jahrhunderte vergessenes Musiktheaterwerk erstmals auf einer deutschen Bühne zu hören. Dass es sich dabei um eine gelungene Vertonung des shakespearschen Hamlet-Stoffes, bei der einfach alles stimmt, ist ein unglaublicher Glücksfall – und seit gestern in Chemnitz zu erleben.
Der Italiener Franco Faccio, 1840 geboren, gehörte zusammen mit Arrigo Boito der Künstlergruppe La Scapigliatura an, die sich ab 1860 für eine Erneuerung der Kunst einsetzte und den herkömmlichen Stil in Literatur, Musik und bildender Kunst ebenso ablehnte wie die bürgerliche Lebensweise. Nach Jahren in Frankreich, Skandinavien und Deutschland wurde Faccio Direktor der Mailänder Scala und tat sich vor allem als Dirigent hervor, leitete u.a. die italienischen Erstaufführungen von Verdis Aida und Otello. Sein kompositorisches Schaffen beschränkt sich im Wesentlichen auf drei Sinfonien und zwei Opern, deren zweite ein Libretto seines Freundes Boito vertonte. Dieser Hamlet wurde nach seiner freundlich aufgenommenen Uraufführung 1865 noch ein einziges Mal 1871 unter der Leitung des Komponisten aufgeführt, geriet allerdings zum Fiasko, da der Hauptdarsteller krank sang und kaum zu hören war, worauf Faccio selbst die Partitur zerstörte. Erst 2003 begann der Komponist und Dirigent Anthony Barrese mit einer Rekonstruktion des Werkes, die 2014 in den USA erstmal konzertant zu hören war und nun als Übernahme von den Bregenzer Festspielen aus dem Jahr 2016 als deutsche Erstaufführung in Chemnitz zu erleben ist.
Boito verschlankt das Drama Shakespeares, reduziert die 19 Szenen der literarischen Vorlage auf 7, erliegt allerdings nicht der Versuchung, wesentliche Aspekte des Werks zu Gunsten der Liebesgeschichte beiseite zu lassen, wie seinerzeit durchaus üblich, sondern zeigt das Werk in all seiner Komplexität. Faccios Kompositionsstil ist ein origineller Stilmix mit traditionellen Elementen wie Märschen und Tänzen, gespickt mit einfallsreichen Vorspielen und Intermezzi, gewürzt mit nahezu impressionistisch daherkommenden, schwelgerischen Melodienbögen, die teilweise Puccini bereits vorwegnehmen. Er spielt mit den Erwartungen des Publikums, bricht mit diesen und schafft so ein dichtes Werk voller musikalischem Tiefgang.
Der österreichische Regisseur Olivier Tambosi legt bei seiner szenischen Umsetzung den Fokus nicht auf die Titelfigur allein, sondern setzt alle Protagonisten – jeden für sich – ins Zentrum seiner Inszenierung. Er visualisiert die komplizierten Beziehungen der Figuren zueinander gekonnt durch hervorragende Personenführung, bedient sich dabei der herausragenden Lichtregie von Davy Cunningham, die nahezu permanent eine gespenstisch-drohende Stimmung erzeugt, sowie den historisierenden Kostümen von Gesine Völlm, die ganz in schwarz/weiß/rot gehalten unter anderem bedeutungsschwanger mit Augen versehen sind. Jeder steht ständig unter Beobachtung, die ganze Welt ist eine Bühne, auf der jeder seine Rolle spielt – und aus der doch auch wiederum jeder ausbrechen will. Alles ist dauernd in Bewegung auf der spiegelnd-glänzenden Drehbühne, auf der Frank Philipp Schlößmann das Theater im Theater – auch abseits der Schauspielszene im zweiten Akt – darstellt und auf der Tambosi das Drama atmosphärisch dicht in obskuren Farben nachzeichnet.
Und auch die Sängerriege kann sich sehen und hören lassen. Der Spanier Gustavo Peña bringt die für die Gestaltung der Titelfigur nötige Strahlkraft mit, setzt seinen farbenreichen Tenor gekonnt ein – auch wenn er in den Höhen mitunter zu Tremoli neigt – und überzeugt darüber hinaus durch unglaublich packendes, intensives Spiel des zerrissenen Titelhelden. Pierre-Yves Pruvot stattet den Claudius mit dunkel-bedrohlichem Bariton voller Kraft aus, während Katerina Hebelkova Hamlets Mutter Gertrude energisch anlegt und nicht nur in ihrer großen Szene im dritten Akt darstellerisch die Bühne beherrscht. Tatiana Larina ist eine zart-betörende Ophelia, deren weicher Sopran schier endlos strömt und auch die weiteren Partien müssen sich nicht verstecken. Magnus Pionteks Polonius überzeugt ebenso wie Ricardo Llamas Márquez und Matthias Winter als Freundespaar Horatio und Marcellus und Cosmin Ifrim zeigt als Ophelias Bruder Laertes die vielen Facetten seines feinen Tenors. Aus der Riege der kleineren Rollen sticht Tommaso Randazzo mit klaren Farben heraus. Einziger akustischer Kritikpunkt bleibt für mich die völlig überflüssige elektronische Verstärkung von Noé Colíns durchschlagendem Bassbariton. Aber das ist Makulatur.
Der Chor hat gut zu tun im Amleto, singt prägnant und klingt ausgewogen, Stefan Bilz hat ihn hörbar intensiv auf seine Aufgabe vorbereitet. Im Graben erweist sich Gerrit Prießnitz als wahrer Magier am Taktstock. Von den wuchtigen Eingangstakten über die farbenreichen Vor- und Zwischenspiele bis zur gefühlvollen Arienbegleitung will einfach alles gelingen. Sein lupenreines Dirigat macht den Abend so zusammen mit der packenden Regie und der ausgezeichneten Leistung des Vokalensembles zum Gesamtkunstwerk. Das Publikum im nicht ganz voll besetzten Chemnitzer Opernhaus ist entsprechend begeistert – und auch ich kann den Abend nicht genug loben und wälze schon meinen Kalender, ob es mir gelingt, eine der weiteren sechs Aufführungen zu besuchen. Vielleicht treffe ich dabei ja Sie, lieber Opernfreund-Freund, denn ich kann diese Produktion rückhaltlos empfehlen.
Sollten Sie meiner Empfehlung folgen, lege ich Ihnen unbedingt noch die lohnenswerte Einführung von Christiane Dost ans Herz. Fundiert und informativ, mit allerhand Hintergrundmaterial zum Werk und seiner Entstehung gehen Sie danach bestens vorbereitet in die Aufführung.
Ihr Jochen Rüth 4.11.2018
Die Fotos stammen von Nasser Hashemi.