Chemnitz: „Götterdämmerung“

Premiere: 1.12. 2018. Besuchte Vorstellung: 10.6. 2019

Und wieder müssen es die Frauen richten…

Elisabeth Stöppler, von der ich einen problematischen Guillaume Tell und einen amüsanten Mozart-Salieri-Rimsky-Korsakow-Abend gesehen habe, versteht sich auf Frauenthemen. Im Nürnberger „Tell“ war mit Leila Pfister eine Madame Schweiz zu sehen, in Berlin Angela Winkler als Beuys-Hirte und eine Geigerin als Einstein. Nun, am Ende einer Götterdämmerung, in der, wie die Regisseurin ganz richtig feststellte, bei Wagner alle Mütter fehlen, sehen wir auf sie, weil wir sie, wenn wir denn wollen, zumindest hören: auf Erda, auch auf Brünnhilde, auf die Rheintöchter und auf eine Norn. Selbst Gutrune darf sich, in respektvoller Entfernung, zum Frauenbund gesellen, über den sich Wagners Welterlösungs- und Liebesmusik zärtlich wölbt: die „Melodie des rettenden Lebens“, wie Wagners Urenkelin Nike einst schrieb. Was für ein Schluss-Bild! Zugegeben: dies war nicht die erste Erda, die am Ende einer „Götterdämmerungs“-Inszenierung auftrat, aber frau muss ja nicht das Wagnersche Weltenrad neu erfinden. Sie muss „nur“ die richtigen Impulse geben, um einen Abend zu garantieren, der zuende schlichtweg ergreifend ist: dies nicht durch „Regieeinfälle“, sondern, durch hochmusikalische Interpretationen der im besten Sinne fatalen Szenen.

Man hat also schon schrecklichere „Ring“-Schlüsse gesehen.

Man hat auch schon dümmere, dramatisch plattere, wesentlich spannungslosere „Götterdämmerungen“ als diese erlebt. Der Tipp der Freundin, derzufolge diese „Götterdämmerung“ szenisch an Chéreaus Version des Schlussstücks der Tetralogie heranreiche (hört hört!), war goldrichtig – denn von Akt zu Akt wurde das Geschehen bannender, um nicht zu sagen: konsequenter und zugleich herzzerreißender. Um nur ein paar Markierungen zu nennen: die Nornen wesen im arktischen Eis vor sich hin und halten das Wissen um die Welt nur noch durch Plastiktütensniffen aus. Aus Siegfried, dem unbefangenen Liebsten der Brünnhilde, wird ein nervös vor sich hin stromernder Junkie, immer auf dem Glatteis zwischen Schluck und Schluck. Hagen ist ein Getriebener, kein einschichtig „Böser“, wenn auch böse in seiner Vernichtungssucht. Waltraute predigt ihrer Schwester vergeblich, am Ende kniend das Schicksal der Götter – und Brünnhilde, die von all dem nichts wissen will, bricht plötzlich, als von ihrem Vater die Rede ist, in ein Schluchzen aus, das klüger und beklemmender ist als ihre gesamte Abwehr. Siegfried und Gunther treten wie in einem romantischen Horror-Roman (Wagner liebte E. T. A. Hoffmann) als Doppelgänger in arktischer Schutzkleidung auf, die Frau schrecklich entwürdigend.

Nach dem ersten Akt herrschte im Zuschauerraum mindestens sechs Sekunden Schweigen. Sechs Sekunden!

Der gesamte zweite Akt bot ab dem Auftritt Brünnhildes, dank des äußerst intensiven Spiels und des hohen vokalen Einsatzes aller Gegner, eine nervenzerreissende Spannung: zuerst Siegfried als irre vor sich hin äugelnder und über die Bühne irrlichternder Drogie und Brünnhilde als starke, beleidigte Frau. Was für ein Krimi! Und schließlich der inkommensurable dritte Akt. Nach der hervorragenden, weil ausnahmsweise nicht aufs Schema Siegfried-trifft-Nutten reduzierten Rheintöchterszene wurde es noch einmal richtig spannend: Siegfried, den Tod schon vor Augen, inmitten einer gefährlichen Gesellschaft um sein Leben erzählend. Schier unglaublich: der Trauermarsch. Siegfried singt Brünnhilde, die Frau mit den geschlossenen Augen, an, er glaubt sie und sich wieder wie in alten Zeiten, also gerettet vor dem Albtraum der Gibichungen (und der Zuschauer hofft, obwohl er es besser weiß, dass nun alles alles gut werden könnte), doch schnell begreifen wir: Sie ist die Walküre geblieben, die Todverkünderin, und als Siegfried begreift, nun wird er wirklich sterben, nun wird er gewaschen und muss sich zu den Toten legen, die da schon liegen, und als es Siegfried endlich begreift, dieses verlorene kleine Leben und sein Ende, bricht er in ein Weinen aus, das auf die Musik zurück und in uns hineinwirkt.

Wie nennt der Kritiker so etwas? Unbegreiflich.

Der Rest ist nicht Schweigen, sondern, wie gesagt, konsequent. Hagen erschießt Gunther, Gutrune erschießt Hagen und erstarrt vor den in die Halle hineingefressenen Trümmern des eisigen Walkürefelsens in einem langen, langen Schmerz. Hagen wäre sowieso nicht an den Ring gekommen, denn den hat Brünnhilde schon nach der Totenwaschung an sich genommen, und Brünnhilde singt ihre letzten 20 Minuten in einem irrealen leeren Raum, in den es hinabschneit, und der dem Auge, zumindest von der 5. Parkettreihe aus, den täuschenden Eindruck macht, als würde sie unaufhörlich in die Höhe fahren, bevor sich die Frauen in einem milden, vom Feuer sanft beleuchteten Abendrot wiedervereinen. Brennen tut nur, von Brünnhilde angezündet, Grane, der Schlitten, die Erinnerung an eine Heimat, in der, wie Ernst Bloch so schön sagte, noch nie jemand war: der Kindheit. Jung-Siegfried aber ist schon lange tot.

Was, liebe Leserin und lieber Leser, Ihnen wie eine willkürliche, typisch „regietheaterhafte“ Verunstaltung des Meisterwerks klingen mag, war, so meine ich, in Wirklichkeit ein Abend, der nicht Oper, sondern pures Musik-Theater war. In diesem Theater darf auch der Scherz erlaubt sein, aus Grane einen Kinderschlitten zu machen, weil er noch im Finale mit einer Bedeutung aufgeladen wird, die über einen „Regieeinfall“, also Mätzchen, weit hinaus geht. Würde man die Begeisterung des Publikums für diesen szenisch hochspannenden und vokal packenden Abend als Gradmesser nehmen, so müsste man sagen, dass die szenische Interpretation des Werks das Richtige getroffen hat: bei aller Freiheit gegenüber Wagners Regieanweisungen, in denen weder von der Arktis (der bedrohten!) noch von einem drogenkranken „Helden“ die Rede ist. Wo aber der musikalische Gestus mit der Szene übereinstimmt (gewiss: das mag subjektiv sein), stimmt auch die Inszenierung – so wie hier: im eisigen Reich der verzweifelten Nornen wie am Hof der verbrecherischen, schwächlichen Gibichungen oder der geopferten Gibichungin.

Und die Hauptsache, die Musik? Zugegeben: Daniel Kirch singt einen relativ dunklen Tenor, trifft am Abend auch nicht jeden Ton, aber nach dem vorgestrigen „Siegfried“ wundert man sich eh über seinen ungeheuren vokalen und szenischen Einsatz. Auch eine Erstaunlichkeit: Stéphanie Müther vermag noch im Finale zu gestalten und in den höchsten Exaltationen der Brünnhilde schön zu singen – ganz abgesehen vom Drama, das sie mit Vehemenz und Subtilität herausspielt. Ich denke nur an ihr Mienenspiel beim Beschluss, ihren treulosen Geliebten zu ermorden. Kirch und Müther sind ein Traumpaar dieses „Ring“: mit einem Zusammenspiel, das auf „Ring“-Bühnen so intensiv und verflochten eher selten zu sehen ist. Die Gutrune der Cornelia Ptassek gehört zu den weiteren Glanzpunkten dieses Abends. Gesegnet mit einer leichten Schärfe, unterstützt ihre Stimme die ein wenig kühle und doch empfindsame Aura dieser betrogenen und szenisch zurecht zur Hauptfigur aufgewerteten Frau, die sich gleich Gunther in der neusachlichen Gibichungenhalle vom ewigen Barkeeper Hagen benebeln lässt (ich kann mich an keine „Götterdämmerung“ erinnern, in der so viel ausgeschenkt wurde…). Ptassek gehört auch zu den Nornen, einem Dreamteam eines Terzetts, für das das Wort „homogen“ erfunden wurde: Anja Schlosser, Sylvia Rena Ziegler und Cornelia Ptassek. Von gleicher Qualität: die Rheintöchter Yang, Ziegler und Sophia Maeno, drei Rheinfrauen, gewandet in Kleider (entworfen von Gesine Völlm) aus Flusstang, drei Wesen zwischen deformierter Natur und halber Kultur. Waltraute ist die phänomenale Anne Schuldt, Alberich der an diesem Abend erstaunlich hoch und dramatisch genau singende Jukka Rasilainen, Marius Bolos sein nicht allzu basslastig, doch dunkel genug dräuender Albensohn und Pierre-Yves Pruvot ein meist seine Stimmorgane pressender, doch angemessen verzweifelter Gunther auf seelischen Hochtouren. Völlig unabhängig also davon, wie hell oder dunkel oder pressend hier gesungen wurde: die Sänger/Schauspieler einte Eines – der Wille zum packenden Musikdrama.

Bleibt der kleine gute Chor von nur elf Mann und einigen Frauen (unter Stefan Bilz); bleibt die Robert-Schumann-Philharmonie, die unter dem die dramatische Akzente mit Glut betonenden Guillermo García Calvo leider unter dem Niveau blieb, das die Bühne vorgab. Allzu viele unüberhörbare Patzer zumal im Blech, etliche Verfolgungsjagden zwischen Bühne und Orchestergraben kündeten davon, dass die Musiker für die „Ring“-Aufführungen der letzten Tage und das warme Wetter einen Tribut zahlen mussten, den man bedauern mag. Merke: Wenn Hörner im „Ring“ patzen, liegt’s vielleicht auch daran, dass sie durchschnittlich jeden zweiten Takt spielen müssen… Das Wesentliche dieser exzeptionellen „Götterdämmerung“ wurde dadurch jedoch nicht berührt. Mit der Interpretation des Ensembles, das sich sein Material aus der Musik holte, um mit starken Bildern und schauspielerisch wohl durchdachten Charakterzeichnungen Wagners Drama zwischen Gestern, Heute und Morgen zu spielen, hat das Theater Chemnitz der Tetralogie den Glanzpunkt aufgesetzt, was äußerst heftigen Beifall, auch für das Orchester (und nicht ganz zu Unrecht, denn „Götterdämmerung“ ist bekanntlich Schwerstarbeit) nach sich zog.

Frank Piontek, 11.6. 2019

Fotos © Kirsten Nijhof und Nasser Hashemi