Aufführungen in Zürich: 5.12. | 9.12. | 14.12. | 18.12. | 23.12. | 29.12. 2021 | 2.1. | 5.1. | 9.1. | 13.1.2022
Die Premiere dieser Neuproduktion ist dem Gedenken an Edita Gruberova, der Königin des Belcanto, gewidmet, die unerwartet am 18. Oktober 2021 in Zürich verstarb. Edita Gruberova, die dem Opernhaus Zürich (mit einem kleinen Unterbruch während der Intendaz Pereiras) über Jahrzehnte verbunden war, verkörperte auch die Titelrolle der Anna Bolena am Opernhaus Zürich in der Premierenserie der Spielzeit 1999/2000.
Man darf sich von den wenigen tänzerisch-fröhlichen Passagen in Donizettis Partitur, vor allem in der noch konventionell an Rossini angelehnten Sinfonia, zum Drama rund um die zweite Gattin Heinrichs VIII., Anna Bolena, nicht beirren lassen – der Komponist hatte Felice Romanis spannendes Libretto durchaus mit der gebotenen Dramatik aufgeladen. Eine berührende und mitreissende Dramatik, welcher die Philharmonia Zürich unter Enrique Mazzola, der von Ernst Raffelsberger einstudierte Chor der Oper Zürich und die herausragenden Solisten mehr als gerecht wurden. Mazzola und die Philharmonia Zürich glänzten bereits in der das Werk einleitenden Sinfonia mit blitzsauberen Triolenfiguren der Streicher, wunderbar ausmusizierten Phrasen der Holzbläser und den organischen Crescendi, bei denen man eben das Vorbild Rossinis noch deutlich spürte. Im Verlauf der Oper liess Mazzola den Sängern immer genügend Zeit, um die Musik und die Phrasen zur Entfaltung und somit zur psychologischen Durchdringung der Partie und der Situation zu führen. Sobald sich der Vorhang öffnete, wurde man hineingezogen ins unerbittlich seiner tragischen Kulmination zustrebende Drama.
Donizetti und Romani war mit dieser lyrischen Tragödie ein Meisterwerk gelungen, und die Umsetzung auf der Bühne des Opernhauses Zürich durch den Regisseur David Alden und seinen Ausstatter Gideon Davey liess punkto Spannung, Intensität und Charakterisierung keine Wünsche offen, verlieh den sieben Protagonisten differenziert ausgestaltete Profile. Die dreineinhalbstündige (inklusive Pause) Aufführung blieb hochspannend bis zum bitteren Ende. Gideon Daveys Einheitsraum aus grauen marmorierten Wänden kennt man bereits aus MARIA STUARDA. Doch diesmal funktionierte er um einiges besser. Holzvertäfelungen als Zwischenwände, rote Kunstledersofas, ein Thron, blutbespritzte Union Jacks, ein Aschehaufen, ein offener Kamin und Stühle trennten die einzelnen Szenen sinnvoll voneinander ab, ohne dass unnötige Pausen durch Umarbeiten auf der Bühne entstanden und den Spannungsbogen unterbrechen mussten. Eine genaue historische Verortung gab es auch diesmal nicht, allerdings waren Anna Bolena und Enrico (Heinrich VIII.) mit ihren Kostümen ziemlich genau im England des 16. Jahrunderts angesiedelt, während die Rivalin Giovanna Seymour im blauen Kostüm und der Pelzstola ins frühe 20. Jahrhundert passte. Die Chordamen mit auftoupierten Frisuren und Lederhandtaschen in biederen Deux-pièces passten in die Mitte des 20. Jahrhunders, während Percy ein wilder Romantiker aus der Zeit Lord Byrons darstellte. Der in Anna verliebte Musiker Smeton dagegen wurde als androgyne Slapstickfigur aus der Stummfilmzeit etwas überzeichnet. Lord Rochefort, der etwas zwielichtige Bruder Annas war ein Alkoholiker und Sir Hervey, der Folterknecht im Dienste Enricos, schlich als strähniges, bleiches und gespenstisches Phantom wie ein Zombie über die Bühne, wirkte wie ein heimlicher, diabolischer Spiritus Rector des Geschehens, echt gruselig. Durch diesen (wie bei MARIA STUARDA) wilden Kostüm- und Charakterisierungsmix entstand ein Panoptikum des Geschehens am Hof, das Interesse und Aufmerksamkeit weckte, zugleich abstiess und faszinierte, ähnlich wie bei TV-Serien im Stile von THE TUDORS, THE CROWN, THE ROYALS u.v.a.m. Der Chor, bei Donizettis Dramen ja meist kommentierend eingesetzt, verfolgte das Treiben am Hof denn auch mit Lorgnons, schaute also genauso neugierig auf die Skandale am Königshaus, wie wir das heute noch tun.
Damit das Konzept funktionierte, brauchte es natürlich die entsprechenden erstklassigen Sänger-Darstellern – und die standen für diese Premiere zur Verfügung. Diana Damrau debütierte gestern Abend in der Titelpartie. Sie gestaltete die anspruchsvolle Rolle mit wunderbar ausbalancierter Stimme und sehr viel Tiefgang. Ihre Pianokultur und die Phrasierung waren schlicht grandios, nie ging sie auch in exaltierteren Passagen über ihre stimmlichen Möglichkeiten hinaus, verzichtete weitgehend auf Stimmprotzerei, eingefügte Fiorituren und forcierte Acuti. Natürlich vermisste man an der einen oder anderen Stelle (vor allem in den beiden Aktfinali) oktavierende Spitzentöne oder interpolierende Koloraturen (wie man sie von Joan Sutherland, Beverley Sills, Elena Mosuc oder Edita Gruberova im Ohr hatte), doch die beinahe introvertierte, sublime Gestaltung der Partie durch Diana Damrau vermochte mit dieser hochklassigen Gesangskultur eigentlich noch stärker zu fesseln als manch zirzensischer Hochseilakt (mit Absturzgefahr), den man in der Vergangenheit erlebt hatte. Auch Karine Deshayes als Annas Gegenspielerin und Rivalin Giovanna Seymour feierte mit ihrer Partie ein umjubeltes Rollendebüt und trat zudem zum ersten Mal am Opernhaus Zürich auf. Ihr präsenter, reifer und höhensicherer Mezzosopran liess nichts an Intensität und Farbe zu wünschen übrig – ja es war hochspannend, den Kampf und die Empfindungen von zwei etwas reiferen Frauen um ein und denselben Mann zu verfolgen. Dieser begehrte Typ war Enrico. Und da Luca Pisaroni mit einem blendenden Aussehen gesegnet ist, konnte man gut verstehen, dass im Kampf um die Liebe dieses mächtigen, potenten Macho-Königs auch eine Frauenfreundschaft zerbricht. Luca Pisaroni war aber auch stimmlich ein packender Interpret, setzte seinen kraftstrotzenden Bassbariton neben all der gebotenen Härte auch mit verführerischer oder süffisant hintertriebener Raffinesse ein.
Im so unfassbar schönen Quintett des ersten Aktes Io sentii sulla mia mano treffen Anna und Enrico auf den Verflossenen Annas, Lord Percy. Wie ein Outlaw trifft Percy am Hof ein, im langen Mantel, Reisesack auf dem Rücken, bärtig, erschöpft, verwirrt. Die Töne aus seiner Kehle aber verströmen pures Gold. Schon lange habe ich keinen derart ebenmässig timbrierten, so wunderbar singenden Tenor mehr erlebt. Alexey Neklyudov erfüllte die Partie des unglücklichen Romantikers mit all der geforderten Sensibilität, sauber geführter und ganz aus dem Text heraus gestaltender Stimme. Eine tenorale Offenbarung! Das Quintett ergänzten Stanislav Vorobyov, der mit sattem, wohlklingendem Bass den Bruder Annas, Lord Rochefort, sang und Nathan Haller mit seinem hellen, gekonnt hinterhältig-fies klingenden Tenor als Sir Hervey, der Mann Enricos fürs Grobe. Nadezhda Karyazina (auch für sie war es ein Rollendebüt) sang einen wunderbar satt schmachtenden Smeton, die Canzonetta im ersten Akt (mit wunderschöner Harfenbegleitung durch Julie Palloc auf der Bühne) war ein ganz besonderer Ohrenschmaus. In einer stummen Rolle durfte natürlich die Tochter Anna Bolenas, Elisabeth, nicht fehlen. Edith Missuray beeindruckte mit ihrer Darstellung des Mädchens, das vom unerträglichen Gebahren am Hof schwerst traumatisiert wurde, ein Trauma, das sich in ihrer späteren Regentschaft als Elisabeth I. dann manifestierte. Mit diesem und manch anderem klug inszenierten Detail vermochte der Regisseur David Alden zu beeindrucken, so auch mit der Zerstörung des Ehebetts durch Enrico, nachdem Anna und Percy in seine Falle getappt waren, das zunehmende Abdriften Annas in den Wahnsinn, die beeindruckende Inszenierung des langen und enthüllenden Zwiegesprächs Annas und Giovannas im zweiten Akt (von Diana Damrau und Karine Deshayes fantastisch gestaltet, auch vor fahlen Tönen nicht zurückschreckend, um den aufgewühlten Verfassungen ihrer Psychen Ausdruck zu verleihen – grossartig!), das Waterboarding Smetons durch Hervey und seine Schächer, der beissende Sarkasmus Herveys in Percys Kerkerszene (damit gekonnt die „Fröhlickkeit“ der Musik Donizettis konterkarierend!). Das Ende der Oper gehörte natürlich ganz der Primadonna: Diana Damrau gestaltete dieses Finale mit überirdischer Schönheit im lyrischen Teil (Al dolce guidami), das war so berührend schön, dass das Publikum vor Ergriffenheit nicht einmal applaudierte – gut so!!! Als dann Giovanna im üppigen weissen Brautkleid und unter Metallfolien – Konfettiregen auftrat, folgte der Stretta-Teil des Finales, Coppia iniqua, in dem Diana Damrau mehr Gewicht auf den Wahn und die Wahrhaftigkeit des Ausdrucks als auf die oberflächliche Bravour legte. Mit gezogenem Schwert stürmte der Henker heran, das Licht ging aus und der dankbare, begeisterte Beifall des Premierenpublikums würdigte die grandiosen Leistungen aller Beteiligten. Dazu zählten auch der Video Designer Robi Voigt, der mit diversen Projektionen – von Totenköpfen bis zu Flammen – für zusätzliche Atmosphäre sorgte, genauso wie der Choreograf Arturo Gama, der für die gespenstischen Reigen zuständig war. Ein spezielles Lob gebührt auch dem Lichtgestalter Elfried Roller, der mit faszinierenden Schattenwürfen die bedrohliche Stimmung am Hof Heinrichs VIII. evozierte.
Die vom Team Mazzola/Alden/Davey betreute Tudor-Trilogie Donizettis am Opernhaus Zürich (MARIA STUARDA hatte 2018 Premiere) wird in der nächsten Saison mit ROBERTO DEVEREUX abgeschlossen. Auch in der Intendanz Pereira gab es übrigens diese Trilogie zu erleben, damals führte Giancarlo del Monaco Regie – bei MARIA STUARDA wurde seine Arbeit von Grischa Asagaroff zu Ende geführt – im Einheitsbühnenbild von Mark Väisänen. Die kürzlich unerwartet verstorbene Edita Gruberova sang damals die Elisabetta in ROBERTO DEVEUREUX und die Titelrolle in ANNA BOLENA. Ihr, die am Opernhaus Zürich 237 Vorstellungen gesungen hatte, war denn auch die gestrige Premiere gewidmet. Das Publikum und der Intendant gedachten dieser herausragenden Sängerin mit einer Schweigeminute vor dem Beginn der Premiere.
Kaspar Sannemann, 7.12.2021
(c) Toni Suter