Zürich: Brahms, Dvořák

Vorstellung am 30.10.2021, in Bern: 1.11.2021

Zusammengesunken sitzt der schmächtige Mann am Klavier, die langen strähnigen Haare scheinen noch feucht zu sein und hängen beinahe bis zu den Tasten herunter. Man fürchtet schon, Daniil Trifonov sei eingeschlafen oder befinde sich in Trance in einer anderen Welt, während die Philharmonia Zürich unter der Leitung des neuen GMD Gianandrea Noseda mit hin- und mitreissender Kraft die wuchtigen 90 Takte der grossangelegten orchestralen Einleitung zu Brahms‘ erstem Klavierkonzert spielt. Doch Trifonov schläft natürlich nicht, er setzt mit präziser Selbstverständlichkeit ein und was sich nun während der nächsten 45 Minuten entwickelt, ist schlicht und ergreifend ereignishaft. Die wuchtigen und gefürchteten Oktavtriller – für Trifonov scheinen sie ein Kinderspiel zu sein. Virtuos umspielt er dieThemen, die das Orchester vorgibt. Packend führt er das wunderschöne F-Dur Seitenthema ein, begeistert mit seinem unnachahmlich zarten, von erhabener Klanglichkeit erfüllten Anschlag. Weich hingetupfte Töne und atemberaubende Trillerkaskaden, Läufe mit überkreuzten Händen und choralartige Akkorde lassen einen vor Ehrfurcht erstarren.

Mit sanft strönmender Gelassenheit breiten Noseda und die Philharmonia Zürich im zweiten Satz einen warmstimmenden Streicherteppich aus, mit perfektem Legato und sparsamem Pedaleinsatz setzt Trifonov ein, erneut blitzen brillante Trillerketten auf, sanft verklingt der elegische Satz. Im Finale nun stellt das Klavier das kraftvolle Hauptthema vor, das melodisch und rhythmisch den ungarischen Einfluss erkennen lässt – ein trotziger Tanz. Während das Orchester das Thema übernimmt, versinkt der Pianist wieder in seine auf die Tasten starrende Trance, um mit rasanten Läufen und hochspannendem Dialogisieren mit dem Orchester daraus zu erwachen. Nach der brillanten Kadenz, bei der Trifonov auch mal die linke Faust ballt, während die rechte Hand über die Tasten rast, setzt das Horn mit bestechender Sauberkeit ein. Ein begeisterndes Fugato der Violinen und ein kurze zweite Kadenz des Solisten bringen das Werk mit einem Paukenwirbel (mit dem es zu Beginn des ersten Satzes auch eingeleitet wurde) zum Abschluss. Das Publikum rast. Als Zugabe wählt Trifonov Bach (Eben hat er ein Bach-Doppelalbum veröffentlicht mit Stücken u.a. aus Die Kunst der Fuge). Mit transparent und innig vorgetragener Unaufgeregtheit erdet er uns wieder nach dem aufwühlenden Höhenflug von Brahms‘ erstem Klavierkonzert.

Nach der Pause dann Dvořáks achte Sinfonie – welch ein Kontrast zur schweren Geburt, welche Dvořáks Freund und Förderer Brahms mit seinem ersten Klavierkonzert (und auch seiner ersten Sinfonie!) hatte. Hier herrscht pure Lebensfreude und Verherrlichung von Natur und Heimat, mit vor Einfallsreichtum reich befrachteter motivischer Fülle. Bei Gianandrea Noseda hat man das Gefühl, dass diese Musik jede Faser seines Körpers erfüllt – er tänzelt auf dem Podest, geht auch mal tief in die Knie und richtet sich wieder auf, wenn ein Thema, eine Phrase das verlangt. Die Philharmonia Zürich begeistert mit hinreissender Spielfreude, glänzt mit singenden Celli, berührt mit elegischen und virtuosen Passagen der Holzbläser im Nocturne – artigen Adagio, in dem die Violinen dann gekonnt Plaudern und Kichern und der Konzertmeister Bartlomiej Niziol ein wunderbares Solo spielt. Mit angebrachter Süsse erklingt der an Tschaikowski gemahnende Walzer des dritten Satzes. Energisch intonieren die Trompeten die Fanfare, welche das Finale einleitet. Und wieder beeindrucken die Celli mit kräftigen, vehementen Bogenstrichen und warmen Kantilenen. Meisterhaft setzt die Soloflöte ein, unerbittlich akzentuiert Noseda das Pochen, welches uns die Ohren von all den Dvořák so unermüdlich eingefallenen Melodien und Themen zu putzen versucht. Eine Entschleunigung setzt nun ein, mit ruhiger Hand lässt Gianandrea Noseda die Verarbeitung des Themenreichtums erklingen, bevor er die Philharmonia Zürich zum keinen Effekt scheuenden, rasanten Furiant-Schluss führt. Der verdiente Jubel des Publikums kennt kaum Grenzen.

Fazit: Kurz und bündig – WOW!

Kaspar Sannemann, 2.11.21

copyright: Andrin Fretz, mit freundlicher Genehmigung Opernhaus Zürich