Zürich: „Belshazzar“

Ab den 1740er Jahren wandte sich Georg Friedrich Händel in London von der italienischen Seria-Oper ab und dem Oratorium (in Englisch gesungen) zu. Dieser Wandel hatte verschiedene Ursachen: Dramen, bei denen das Publikum den Text versteht, waren nun in Mode, das enge Korsett der Opera Seria konnte zugunsten einer Vertiefung in das seelische Befinden der Figuren gelockert werden. Laut dem Dirigenten der Zürcher Produktion von BELSHAZZAR, Laurence Cummings, sollte so ein Kino im Kopf des Zuhörers entstehen. Genau auf dieser Schiene fährt der Regisseur dieser Zürcher Fassung von BELSHAZZAR, Sebastian Baumgarten – seine szenische Umsetzung ist leibhaftiges Kino. Ein Filmplakat im Cinemascope-Format beherrscht die Bühne, wird später zur zweiten Filmleinwand. Dieses Plakat zeigt (durch moderne Bauten erweitert und spiegelverkehrt sichtbar) Rembrandts Gemälde DAS GASTMAHL DES BELSAZAR und erinnert stark an eine Monumentalfilmproduktion oder an einen billigen italienischen Sandalenfilm, wie sie in den 50er und 60er Jahren populär waren.

Ab dem 10. Dezember wird in Zürich ja das Erfolgsmusical THE BOOK OF MORMON gezeigt – hier im Opernhaus zeigt uns Sebastian Baumgarten nun eine bildgewaltige Version von THE BOOK OF DANIEL, die Verse dieses fiktiven biblischen Sehers, der apokalyptische Träume hatte. Bereits während der Ouvertüre wird eine zusätzliche Leinwand vom Bühnenhimmel heruntergelassen und darin sehen wir den Juden Daniel, wie er verzweifelt am Script seines BOOK OF DANIEL herumlaboriert, es als Regisseur auch verfilmen will, wohl um damit noch mehr Anhänger für seine Sekte zu rekrutieren. Die Juden werden in dieser Inszenierung als eine Mischung von Amish und „Grünen“ gezeigt, die in Strohhütten hausen. Grün sind auch ihre heiligen Gefässe, über welche sich dann Belshazzar so lustig macht und sie von den leibhaftig auftretenden, bunt kostümierten archaischen Göttern zertreten lässt. Eine grüne Menora ziert den Rücken der T-Shirts der Juden, vorne sind darauf Fotografien von mehr oder weniger berühmten Glaubensgenossen gezeigt, die reichen von Anne Frank über Karl Marx zu Sigmund Freud, Barbara Streisand und gar Sarah Jessica Parker. Daniel selber ist Lang, hält langweilige, einschläfernde Bibelstunden mit seinen Anhängern ab, die in ein gemeinsames, manieristisches und nerviges Dauerwippen der Körper münden.

Die Kostümbildnerin Christina Schmitt konnte für diese Produktion aus dem vollen schöpfen. Während die „grünen“ Juden mit ihren altertümlichen weissen Kniestrümpfen und den schwarzen Quäker-Hüten und die Perser um ihren Anführer Cyrus in schwarzem Leder-Outfit uniformiert (monotheistisch!) wirkten, waren die Babylonier am Hof Belshazzars ein bunter Haufen (polytheistisch!), dessen Kleider von den dauerbekifften archaischen Naturmenschen über Schamanen und Beduinen bis zu Operettenuniformen und Cleopatra in Sneakers reichten. Am Ende, wenn sich alle in der Lobpreisung des gerechten“wahren“ monotheistischen Gottes üben, erscheint die Kronprinzen-Mutter Necotris, von Cleopatra zur Nonne gewandelt, in schwarzem Leder-Nonnenrock mit schickem weissem Kopfputz, als hätte ein avantgardistischer Modedesigner ihre Kluft entworfen. Daneben gab es viel Trockeneis (die Fluten des Euphrat, in welche die Perser ihre Kartonbecher schmeissen …), ein Modell der Stadt der Zukunft (inklusive kaputten Autos, durch Puppen dargestellte Sexszenen), aufgezeichnete Videoclips und solche in Echtzeit, Karton-Kampfflugzeuge und apokalyptische Filmsequenzen noch und noch, vom Desert-Storm über Bombardierungen von Headquarters zu gigantischen Naturkatastrophen und einer Götterdämmerung durch einen Feuerball, die jedem Monumentalfilm gut angestanden hätte. Pralles Spektakel noch und noch – doch ständig stellte man sich die Frage, was das soll, wo die Gefühle der Personen bleiben. Wohin uns Sebastian Baumgarten lenken wollte, wurde nicht ganz klar. Macht er sich über die momentane „grüne“ Welle lustig? Ist eh alles Fake? (Er verheimlicht die Tricks der Filmindustrie ja keineswegs, alles wird immer gleich als „falsch“, als Fake aufgedeckt, so auch die gigantische Löwin, auf der Cyrus in Babylon einzieht, bei der man – sobald sie sich dreht – das menschliche „Herz“ sieht, genau wie Daniel in seiner Vision von den vier grossen Tieren.) Früher hat man sich über Theater auf dem Theater Inszenierungen geärgert, heute ist oft Fim im Theater anzutreffen, bald werden wir wohl nur noch virtual reality Inszenierungen aschauen dürfen.

Man wohnt also an diesem dreistündigen Abend einem szenischen Overkill bei und kann sich kaum auf die Musik Händels konzentrieren, welche quasi im Hintergrund abläuft und vielleicht wegen der optischen Gewalt streckenweise sehr brav und auch etwas langfädig wirkt. Das opernhauseigene Orchestra La Scintilla ist leicht hochgefahren und spielt wie erwähnt unter der Leitung von Laurence Cummings. Mehr Eindruck hinterlassen die Chöre: Der Chor des Opernhauses Zürich ist verstärkt durch Chorzuzüger (Einstudierung: Janko Kastelic) und hat eine gewaltige und dankbare Aufgabe bravourös gelöst. Die Chorsänger müssen als Babylonier, Juden und Perser die Handlung in reichhaltig komponierten Passagen kommentieren, und dieser Gesang ist von auserlesener Qualität, inspirierter Frische und gehaltvollem Klang. Von den fünf Protagonisten berührt Leyla Claire als Nitocris am stärksten. Händel hatte ihr auch viele dankbare Arien geschrieben. Der neue Shootingstar am Countertenorhimmel, Jakub Józef Orliński, begeistert mit physischer und vokaler Agilität, spricht moralisierende Worte über die Falschheit der Menschen und fährt selbst mit Panzern auf um Andersgesinnte zu „bekehren“. Mauro Peter spielt den dauerbesoffenen Antihelden Belshazzar mit seinem schön timbrierten Tenor, Evan Hughes setzt seinen runden Bass als von Rachegelüsten getriebener Gobrias ein.

Wahrscheinlich hat man die Partie des Daniel absichtlich mit einer kleinen Stimme besetzt, um den Jüngling glaubhaft zu machen. Allerdings stellt man sich angesichts der fehlenden Tiefe und des beschränkte Volumens in Tuva Semmingsens Stimme doch die Frage, ob man der Mezzosopranistin mit dieser Partie einen Gefallen tut. Aufhorchen lassen die schönen Stimmen von Thomas Erlank, Oleg Davydov und Katia Ledoux als Three Wise Men.

Fazit: MENE MENE TEKEL UPHARSIN – „gewogen und für zu leicht befunden“, deutet Daniel die auf Belshazzars Unterarm tätowierten Schriftzeichen. Diese Produktion bagatellisiert durch den medialen – und dialektischen – Overkill die Grundaussage des Oratoriums. Das Publikum regierte wie immer freundlich auf die Ausführenden, deutlich hörbar etwas verhaltener beim Erscheinen des Inszenierungsteams.

Kaspar Sannemann, 5.11.2019

(c) Herwig Prammer