Zürich: „Boris Godunow“

Weitere Aufführungen in Zürich: 20.9. | 23.9. | 26.9. | 9.10. | 16.10. | 20.10.2020

Was für ein Abend! Während die meisten Opernhäuser Europas sich noch in einer Corona bedingten Schlaf- oder zumindest Halbschlafphase befinden (mit Kammeropern, alternativen Schnipselkonzerten, konzertanten, pausenlosen Opernquerschnitten), richtet das Opernhaus Zürich mit der ganz grossen Kelle an, startet nach einer sechsmonatigen Schliessung wieder mit einem Premierenreigen in der ersten Woche (BORIS GODUNOW, DAS TAPFERE SCHNEIDERLEIN, DIE CSÁRDÁSFÜRSTIN). Und dies vor (fast) vollen Rängen (zur Zeit können 900 von 1150 Sitzplätzen verkauft werden), ohne freie Zwischensitze, dafür mit Maskenpflicht im gesamten Haus. Gut so!

Gespannt war man natürlich auf den Klang, da aus Sicherheitsgründen für die Musiker des Orchesters und des Chors nicht im Graben oder auf der Bühne spielen und singen können, sondern im ca 1 km entfernten, grosszügig dimensionierten Probesaal am Kreuzplatz platziert sind. Mittels kilometerlangen Glasfaserkabel ist eine Übertragung des Musizierens am Kreuzplatz ins Opernhaus und zurück in Lichtgeschwindigkeit möglich, 100 Monitore im Opernhaus und im Probesaal garantieren die Kommunikation und Abstimmung, 60 Mikrofone im Probesaal sorgen für ein genau abstimmbares Klangbild und die Surroundanlage im Zuschauersaal klingt fabelhaft, ja, man wähnt sich stellenweise in einem hochmodernen Digital Kino mit THX Soundsystem. Die Transparenz des Orchesterklangs ist fantastisch, die Beimischung der Chorstimmen präzise und bezwingend, und das Ganze eröffnet den Zuhörern bei diesem Meisterwerk der russischen Oper ganz neue, unter die Haut gehende Erfahrungen und Impressionen. Der Regisseur dieser einmaligen russischen Version der Grand Opéra, Barrie Kosky, weiss das geschickt für seine Konzeption zu nutzen.

Die ersten Bilder bis zum Polenakt lässt Kosky in einem mit gigantischen Akten- und Bücherregalen möblierten unterirdischen und verstaubten Archivraum spielen. Dieser Raum kann sich mittels der verschiebbaren Elemente – ganz der Blendentechnik der Komposition angepasst – schnell verwandeln. (Bühne: Rufus Didwiszus).

Der Polenakt ist dann ganz in Gold gehalten (wie ein Fremdkörper im düsteren Ambiente der Rahmenakte), die beiden Schlussbilder spielen im leergeräumten Betonbunker.

Bevor die Musik zum Prolog einsetzt, singt ein Hipster (Vollbart, die langen Haare zum Dutt gebunden, Röhrenjeans, Sneakers, Strickjacke) a capella die Worte des Gottesnarren Fliesset, fliesset ihr bitteren Tränen! (aus dem in Zürich nun gestrichenen Bild vor der Basiliuskathedrale und aus dem Revolutionsbild aus der Waldlichtung bei Kromy). Spencer Lang ist dieser Gottesnarr, der als Klammer der Inszenierung fungiert, das Geschehen um Geschichtsschreibung, Gegengeschichtsdarstellung, Revisionismus und fake news die ganze Aufführung durch stumm, kindlich staunend und anteilnehmend als Bibliotheks-Praktikant begleitet. Was Spencer Lang hier an Bühnenpräsenz. ausdrucksstarker Mimik und ungeheurer Körperlichkeit zeigt, lohnt allein schon den Besuch der Aufführung. Wenn dann alle Bücher (und die meisten Protagonisten) in einem dunklen Loch im Bühnenboden verschwinden, die gigantische Totenglocke sie unter sich begräbt und höchstens als blutüberströmte Bömmel nochmals hochzieht, liest der Narr die Worte Dimitris aus einem Buch vor, singt also in dieser Szene die hohlen Phrasen des falschen Zarewitschs mit grandioser Stimmführung. Umso erschütternder klingt dann sein Kommentar dazu: Fliesset Tränen … weine russisches, hungriges Volk. Ein Volk, stellvertretend für alle Völker der Erde, die aus der Geschichte nicht lernen können, nicht wollen? Barrie Kosky fasst dies alles in geradezu allegorische Bilder von unentrinnbarer Kraft.

Seit Schaljapins erten Schallplattenaufnahmen der Monologe des Boris war und ist BORIS GODUNOW ein überaus dankbares Werk für grosse Bassisten. Gleich drei solcher Bässe sind für tragende Rollen in dieser Oper gefordert. In Zürich wurde nun die Titelrolle einem Bassbariton anvertraut, Michael Volle, der hier sein Rollendebüt feiert. Sein Stimmvolumen scheint keine Grenzen zu kennen, aber er setzt es klug und differenziert ein. Die drei Monologe in der Gestalt der Urfassungen Mussorgskis mit ihren abgehackten, von Gewissenbissen durchquälten Phrasen interpretiert Volle mit grandioser Ausdruckskraft. Darstellerisch verschmilzt er total mit dem zwar gutmeinenden, aber halt durch den ihm angelasteten Mord am Zarewitsch zutiefst in Schuld verstrickten Zaren. Strähniges Haar, psychosomatisches Zittern der Hände, fahrig, verunsichert. Ein überaus gelungenes, stringentes Rollenporträt. Als pedantischen Geschichtsschreiber (dem aber in Bezug auf Faktenbasierung nicht zu trauen ist) erlebt man den Mönch Pimen, mit sonorem Bass gesungen von Brindley Sherratt. Als dem Alkohol sehr zugetanener Bettelmönch Warlaam erhielt Alexei Botnarciuc verdientermassen Szenenapplaus nach seiner grossen Szene in der Schenke an der litauischen Grenze.

Gespielt wurde auch der Polenakt: Hier brillierte der Bariton Johannes Martin Kränzle als intriganter Jesuit Rangoni. Nach seinem Don Pasquale verblüffte er erneut mit einem Kabinettsstück seiner Darstellungskunst, so die genüssliche Mimik (beim Verspeisen von Pralinen) nach dem Erfolg seiner Intrige, oder das seinen miesen Charakter und seine Besessenheit offenbarende Spiel seiner Hände. Aufhorchen liess Konstantin Shushakov – mit wunderbarer Baritonstimme gesegnet – als Schtschelkalow im ersten und im Kremel-Bild. Der Bass von Valeriy Murga beeindruckte mit Autorität als Polizeioffizier.

Neben dem Gottesnarren von Spencer Lang vermögen auch die beiden grossen Tenorrollen der Oper tief zu beeindrucken. Edgaras Montvidas singt den „falschen“ Dimitri in seinem Rollen- und Hausdebüt mit klarer, herrlich ansprechender Stimme, ein Sänger, den man gerne wieder hier am Haus erleben möchte. Grandios ist John Daszak als zwielichtiger Fürst Schuiski, vollstimmig und nie keifend (wie die Rolle leider oft interpretiert wird) portätiert er den „Königsmacher“. Mika Mainone gestaltet mit seinem schön ausgewogenen Knabensopran die Rolle des Fjodor (Boris‘ Sohn) mit berührender Eindringlichkeit. Hervorragend auch Iain Milne als zweiter Bettelmönch Missail und Savelii Andreev als Leibbojar.

Mussorgski wurde ja vorgeworfen, dass seine Oper keine tragende Frauenrolle enthielte. Mit ein Grund, dass der Ur-Boris von der Oper in St. Petersburg abgelehnt worden war. Daraufhin komponierte er noch den Polenakt und führt hier die ehrgeizige Prinzessin Marina ein, eine dankbare Partie für eine Mezzosopranistin. Oksana Volkova bleibt denn auch den Mazurkarhythmen und den mit der gebotenen Falschheit vorgetragenen Liebesschwüren im Duett mit dem Prätendenten Dimitri nichts an slawischer Farbgebung des Tons schuldig. Einschmeichelnd und verführerisch klingt ihre warme, mit dem richtigen Quäntchen an Erotik aufgeladene Stimme. Grossartig wird die pralle Schenkwirtin im Gasthaus an der litauischen Grenze von Katia Ledoux porträtiert. Ihre Darstellung ist umwerfend. Lina Dambrauskaité als Boris‘ Tochter Xenia leidet mit glockenhellen Tönen am Tod ihres Bräutigams und Iréne Friedli als warmstimmige Amme vervollständigt das – durch Boris‘ Verfolgungswahn dann schnell zerstörte – idyllische Familienbild im Kreml.

BORIS GODUNOW gehört zu den Opern, die nicht in einer endgültigen Fassung vorliegen. Der Autodidakt Mussorgski, schon zeimlich schwer vom übermässigen Alkohokonsum gezeichnet, war ein chaotischer Arbeiter – und vielleicht gerade in seinem beginnenden Wahn deshalb von einer ungeheuerlichen Genialität und weit in die Zukunft weisend mit seinem Stil. (Kürzlich hat man eines anderen, von Drogen gezeichneten Musikers gedacht, Jimi Hendrix, der zu diesen genialen Persönlichkeiten gehörte, die am Abgrund der bewusstheitsverändernden Stoffe ihre Einzigartigkeit offenbar(t)en.) In Zürich hat man die von Michael Rot revidierte Fassung des Ur-Boris gewählt, allerdings erweitert durch den Polen-Akt und die geradezu sensationelle Szene des Revolutionsbildes im Wald von Kromy, welche ganz original von Mussorgski erfunden wurde, bei Puschkin nicht vorkommt. Dafür hat man die Szene vor der Basiliuskathedrale weggelassen. Herbert von Karajan z.B. hat für seine legendäre Schallplattenaufnahme beide Szenen (Basilius und Kromy) beibehalten und nur wenige, verdoppelnde Takte im Schlussbild weggelassen. Auch ein überzeugender Weg – aber im Blick auf die Aufführungsdauer und durch die Klammer-Präsenz des Gottesnarren von Beginn weg, vermag diese Zürcher Fassung ebenfalls zu bestehen.

Kirill Karabits am Pult der Philharmonia Zürich gibt dieser rauen, von überraschenden Schroffheiten und mutigen, impressionistischen Klangfarben geprägten Partitur eine transparente Tiefe. Da ist nichts mehr zu hören von den knallenden, kadenzierten Tableaux-Schlüssen in den Fassungen Rimsky-Korsakows (die natürlich auch ihre effektreichen Vorteile haben …). Fahle Töne, aufrüttelnde Instrumentation, aufhorchen lassende Harmonien prägen ein Klangbild, das kongruent geht mit der packenden Inszenierung durch Barrie Kosky. Die Philharmonia Zürich evoziert diese oft fahlen Klänge, die manchmal wie ins Leere zu laufen scheinen, mit spannender Kraft und fein ausgehorchter Intensität. Kraftvoll und unerbittlich erschallen die erzwungenen Heil-Rufe des Chors (Einstudierung: Ernst Raffelsberger), die leidenden Stimmen klingen wie Mahnmale aus den Lautsprechern, dazu öffnen und schliessen sich die sprechenden Bücher auf den Stapeln mit bewundernswerter Präzision. Einzig der Gottesnarr scheint das Leiden, das aus den Büchern spricht, zu verstehen, kann Empathie empfinden.

Die Oper ist (nach der Zwangspause durch Corona) wieder da – man ist bewegt, berührt, hingerissen.

(c) Monika Ritterhaus

Kaspar Sannemann, 23.9.2020