Vorstellung am 22.10.2019
Wir kennen sie alle, die Sängerinnen, die nicht zu altern scheinen. Bei den einen wissen wir weshalb (z.B. Cher – Skalpell und Knochensägen), bei anderen wiederum ist es rätselhaft (Mireille Mathieu – sieht seit über 50 Jahren ungefähr gleich aus). Noch rätselhafter ist jedoch das Schicksal Emilia Martys in Janáčeks Oper DIE SACHE MAKROPULOS: Sie wurde vor 337 Jahren auf Kreta als Elina Makropulos geboren.
Ihr Vater war der Leibarzt von Kaiser Rudolf II. und stellte für diesen ein lebensverlängerndes Elixier zusammen, das er auf Geheiss des Kaisers zuerst an seiner Tochter ausprobierte. Seither wandelt sie nun auf der Erde als männerverzehrender Vamp, und schlägt auch im respektablen Alter von 337 Jahren die Männer noch immer reihenweise in ihren Bann. Doch der Regisseur Dmitry Tcherniakov traut der Geschichte natürlich nicht ganz – und findet zu überraschender, ja bestechender Lösung. Es beginnt alles – beinahe normal – in einem verstaubten Salon, der gut und gerne zur Handlungszeit der Oper (also 1922) so ausgesehen haben mochte. Allerdings bewegen sich die Menschen darin in heutigen Kostümen (Bühnenbild vom Regisseur, Kostüme: Elena Zaytseva). Bereits im zweiten Akt kommt einem das dann doch etwas befremdlich vor, denn an beiden Seiten des Bühnenbildes werden Flure sichtbar, in denen die Personen quasi auf ihren „Auftritt“ warten müssen. Mit Erstaunen nimmt man auch die schon fast übertrieben realistische Personenführung zur Kenntnis, das geht bis zum Nasenbluten Janeks, der von seinem Vater dermassen grob gegen Tisch und Lampe gestossen wird, dass man schon glaubt, der arme Junge habe sich echt verletzt und der Theaterarzt müsse gleich auftreten.
Nun, der schlaksige Teenager im Schlabberpulli und mit Wollmütze wird sich später wegen seiner unstillbaren Liebe zu der 337jährigen Emilia Marty selbst umbringen. Was diese jedoch – wie alles andere, das so passiert – extrem kalt lässt. Sie verfolgt nur ein Ziel (aber das wissen die anderen nicht), nämlich an das Rezept für das lebensverlängernde Elixier zu gelangen, dessen Wirkung nun nach über dreihundert Jahren nachlässt. Bei Tcherniakovs Umsetzung des Stoffs ist es allerdings eher ein Medikament denn ein Elixier, wir erfahren nämlich während der Ouvertüre, dass Emilia Marty unheilbar an Krebs erkrankt ist und nur noch zwei Monate zu leben hat: Auf Röntgenbildern sehen wir, dass sich die Metastasen über alle Organe und auf alle Knochen verteilt haben. Der Prozess, um den es in der Oper eigentlich geht, und die Umstände der SACHE MAKROPULOS treten eher etwas in den Hintergrund (die Details werden aber in verdienstvoller Weise vom Regisseur – inklusive Stammbaum der Protagonisten – genauestens im Programmheft dargelegt).
Im Vordergrund steht das unsäglich gefühlskalte, egoistische Verhalten der Hauptfigur und die Triebhaftigkeit der sie umgebenden Männer. Im dritten Akt, wenn die Tarnung der E.M. (Elina Makropulos benutzte diese Initialen für all ihre gelebten Persönlichkeiten im Verlauf der 337 Jahr ihres Lebens) auffliegt, zerlegt sich auch der ganze Trug des Bühnenbildes in seine Einzelteile. Das bisher Gesehene war nichts weiter als eine TV Reality Doku über eine sterbenskranke Frau. Lug und Trug zur Gaudi des auf der Bühne anwesenden Publikums. Wenn sich nämlich die Wände des Salons wie von Zauberhand wegbewegen, sehen wir 300 Statisten auf Rängen sitzend und Emilias Schlussmonolog applaudierend, Scheinwerferbatterien und Monitore von allen Seiten. Nun wird auch diese übertriebene, ins Chargieren neigende „Schauspielkunst“ verständlich, das sieht man schliesslich auf privaten TV Kanälen tagtäglich, Laien die sich als Tragöden aufführen. Doch so einfach macht es sich der Regisseur dann doch nicht – er lässt die Oper mit einem veritablen Coup de théâtre enden. Die „Schauspielerin“ stirbt vor der Kamera und dem Publikum for real – das wird die Quoten nochmals in die Höhe treiben.
Das Ensemble, welches Tcherniakov am Opernhaus Zürich zur Verfügung stand, war dieser Gratwanderung zwischen Ernsthaftigkeit des Themas und Verhunzung durch Reality Soap mehr als gewachsen, das war schlicht grandios. Allen voran natürlich Evelyn Herlitzius als Emilia Marty (alias Mireille Mathieu). Schneidend und eiskalt ihr hochdramatischer Sopran, unglaublich expressiv ihre Darstellung des berechnenden Vamps und am Ende der besoffenen, ordinären Frau in der grossen Galarobe, die mit ihrem Leben abschliesst (der Alkohol als Wahrheitsdroge), die von allem genug gesehen hat, des ewigen, gleichförmigen Kreislaufs des Lebens überdrüssig geworden ist. Durchs Band weg herausragend besetzt die sie umgebende, speichelleckende Männerriege: Sam Furness als Albert Gregor, Scott Hendricks als Josef Prus und Spencer Lang als sein Sohn Janek. Hervorragend auch Tómas Tómasson als ständig an seiner Krawatte herumnestelnder Advokat Kolenatý und Guy de Mey als schmieriger Hauk-Schendorf im Rollstuhl. Kevin Connors gab einen stimmsicheren, umtriebigen Vitek und Deniz Uzun war umwerfend in ihrer Präsenz als seine ambitionierte Tochter Krista, Ruben Drole und Irène Friedli wussten als Theatermaschinist und Putzfrau zu gefallen. Aufhorchen liess die Stimmkraft von Katja Ledoux in ihrem kurzen Auftritt als Kammerzofe.
Neben all den Solisten wurde beim begeisterten, ja stürmischen Schlussapplaus vor allem die farbenreich aufspielende Philharmonia Zürich gefeiert. Die Leitung hatte Jakub Hrůša, welcher die Modernität Janáčeks mit ihren Reibungen und Dissonanzen und Schärfungen mit überwältigender Plastizität und ungeschönt spielen liess. So kamen die wenigen lyrischen Phrasen umso eindringlicher zum Klingen.
Auch wenn einige Damen hinter mir tuschelten, sie hörten halt doch lieber Opern mit Melodien – diese SACHE MAKROPULOS war ein echter Kracher!
Kaspar Sannemann, 23.10.2019
(c) Monika Rittershaus