Zürich: „I Capuleti e i Montecchi“

Eine glanzvolle Wiederaufnahme dieser leider viel zu selten gespielten Oper Bellinis ging gestern Nachmittag im Opernhaus Zürich über die Bühne – eine Wiederaufnahme, in der alle Rollen neu besetzt waren und frischer Wind am Dirigentenpult herrschte. Eine Aufführung, der das Publikum gebannt lauschte und dabei dank der herausragenden Sänger in den Genuss all der musikalischen Kostbarkeiten kam, die Bellini für dieses Werk komponiert oder aus früheren Opern entlehnt hatte. Die Philharmonia Zürich ging die teils schmissige, teils wunderbar melancholische Partitur mit spielfreudiger Frische an, glänzte mit wunderbar sauberem Klang der Hörner, mit einfühlsamen Solo-Kantilenen der Klarinette, der Flöte oder des Cellos, mit perlenden Introduktionen und Begleitungen der Arien durch die Harfe. Der Dirigent und Barockspezialist Fabio Biondi feierte mit seinem prägnanten, vorwärtsdrängenden Dirigat (unter gebührender Auskostung der langen Melodiebögen Bellinis) ein begeisterndes Debüt am Opernhaus Zürich. Ebenso begeisternde Rollendebüts gab es auf der Bühne zu erleben.

Die Mezzosopranistin Jana Kurucová sang und gestaltete einen stupenden Romeo, draufgängerisch und burschikos in den Konfrontationen mit der chauvinistisch-mafiösen Sippe der Capulets, mal stürmisch, mal besorgt in seinen Momenten mit Giulietta. Frau Kurucovás wunderbar samtene Stimme bestach durch ein wunderbares Aufblühen in der Auftrittsarie Ascolta, se Romeo t’uccise un figlio aber auch durch dramatische, wutentbrannte Kraft in der anschliessenden Cabaletta La tremenda ultrice spada. Bei der Entdeckung der (vermeintlich) toten Geliebten waren herzzerreissende fahle Töne zu hören, die anschliessende Arie Deh! tu bell’anima rührte zu Tränen, traf mit einer dieser langen, ergreifenden Melodien, wie sie eben nur Bellini komponieren konnte, mitten ins Herz. In den Duetten verschmolzen und umwanden sich die beiden gleichermassen wunderschön timbrierten Stimmen Romeos und Giuliettas aufs Herrlichste, denn Rosa Feola gestaltete die anspruchsvolle Partie der Giulietta mit ebensolcher Empfindsamkeit wie Jana Kurucová ihren Romeo, ein wahres vokales Traumpaar – wenn die Geschichte bloss nicht so traurig wäre. Rosa Feola glänzte mit stimmlicher Agilität, wunderschöner Klangfarbe, grossem Atem für die subtile Phrasierung und sorgte so für die geforderte – quasi entrückte – Positionierung der Figur, deren einziger Lebensgrund noch die Liebe zu Romeo ist, behindert durch die komplexe Beziehung zu ihrem Vater, die Christoph Loy in seiner Inszenierung sehr überzeugend herausgearbeitet hatte. In meiner Kritik zur Premiere 2015 hatte ich geschrieben: „Wie in einer alptraumhaften Karussellfahrt spult sich Giuliettas Leben während der von der Philharmonie Zürich rasant gespielten Ouvertüre vor ihrem inneren Auge ab. Ein beklemmender Einstieg in Bellinis relativ selten auf der Opernbühne anzutreffende lyrische Tragödie ist hier dem Inszenierungsteam (Regie: Christof Loy, Bühne und Kostüme: Christian Schmidt) gelungen. Denn diese Rückblende erklärt die beinahe unverständliche Passivität Giuliettas während der Oper, ihre Bindung zum Vater (von dem sie als Kind missbraucht wurde), ihre Angst und ihre Abneigung gegenüber körperlicher Nähe.

Loy schlägt mit dieser Auslegung einen Bogen zum Fall Kampusch und auch zum sogenannten Stockholm-Syndrom, bei welchem die Opfer (und als solches wird Giulietta hier dargestellt) unter einer Wahrnehmungsverzerrung leiden. Bellinis doch ziemlich schmissig und fröhlich daherkommende Ouvertüre, die eigentlich gar nicht so recht zum tragischen Stoff passen will, erhält durch diese szenische Auslegung einen Zug ins Groteske. Die vor der Räumung stehende Villa der Capuleti mit ihren schmucklosen, vergilbten Wänden und der dunklen Holztäfelung, welche Christian Schmidt auf die Drehbühne gestellt hat, tut ein Übriges, um die depressive seelische Verfassung Giuliettas zu erklären. Ein androgynes, amorphes Wesen dient als Begleiter, Orakel und Führer, als schwarzer Todesengel, aber auch als Projektion des Traumprinzen, eine Art schwarzer Lohengrin.“ Dazu kann ich immer noch stehen. Der Todesbote wurde bei der Wiederaufnahme nun durch Dominik Wiȩcek mit unheimlicher, bezwingender Präsenz dargestellt. Neu waren ebenfalls auf der Seite des faschistisch-mafiösen Capulet-Clans der ausgezeichnete Bassist Maxim Kuzmin-Karavaev als Oberhaupt der Familie (Capellio) und der mit herrlich strahlendem und höhensicheren Tenor aufwartende Omer Kobiljak als Tebaldo. Der unglücklich zwischen den Fronten agierende Arzt und Vertraute Giuliettas (und eben auch Capellios) wurde von Michael Brent Smith mit schmiegsamem Bass gesungen. Mit stimmlicher Wucht und darstellerischer Klasse agierten die Herren des Chors der Oper Zürich (sie traten beim Fest teils auch als Frauen auf), machten hervorragende Figur sowohl als Verkörperung der Nobilitá (Capuleti), als auch der kämperischen Arbeiterklasse (Montecchi).

Fazit: Wer bereits die Premierenserie erlebt hat, tut gut daran, auch diese Wiederaufnahme zu besuchen, wer das Werk nicht kennt, sollte sowieso reingehen. Allzu häufige Gelegenheiten, diese wunderschöne Oper Bellinis auf der Bühne zu erleben, gibt es ja nicht, und diese herausragende Besetzung sollte sich kein Melomane, keine Melomanin entgehen lassen.

Kaspar Sannemann, 23.9.2021

Bilder (c) Monika Rittershaus