Wer hätte das gedacht – ein Werk aus dem Geburtsjahrhundert der Oper rockt beinahe 400 Jahre später das Haus. Und wie! Nach über drei Stunden Monteverdi war das Publikum regelrecht aus dem Häuschen, konnte sich mit Bravi-Rufen und Applaus kaum mehr einkriegen. Mit gutem Grund: Diese Produktion aus dem Jahr 2018 konnte auch bei der Wiederaufnahme restlos überzeugen und begeistern. Das Ineinanderspiel von Inszenierung, Musik und mitreissender Spielfreude der Darsteller“innen auf der Bühne machte das Zauberhafte dieses umwerfenden Musiktheater-Erlebnisses aus.
Die Arbeiten des katalanischen Erfolgsregisseurs Calixto Bieito sind nicht immer unumstritten – doch mit dieser POPPEA hat er meines Erachtens einen ganz grossen Coup gelandet, auch dank der Gestaltung der Bühne durch seine häufige Partnerin Rebecca Ringst, mit den herrlich augenzwinkernden Kostümen von Ingo Krügler und dem originellen Video-Design von Sarah Derendinger. Das Inszenierungsteam lässt die intrigante Geschichte am Hof des römischen Kaisers in einer Art Arena spielen, das Orchester ist mitten in einem ovalen, von unten mit kaltem Weiss beleuchteten Laufsteg platziert. Auf jeder Schmalseite des Ovals verhüllen je sieben unterschiedlich grosse LED Bildschirme die Proszeniumslogen, zeigen Live- und eingefrorene Bilder der Sänger, das Publikum nimmt auch auf der Bühnentribüne Platz und verleiht der Aufführung so die Arena-Atmosphäre. Genauso wie die Personen auf der Bühne erfreuen sich auch die Zuschauer am Auftauchen ihres Konterfeis auf einem der Bildschirme. Denn Bieito sieht in den Römer“innen des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung durchaus Parallelen zur hedonistischen Gesellschaft, in der wir uns 2000 Jahre später befinden. Und genauso unzimperlich mit Sex und Gewalt und Intrigen wie heute ging es zur Zeit Neros zur Sache. So wird aus der Geschichte um die Verbannung der Kaiserin Ottavia, Neros Techtelmechtel mit einer ehrgeizigen Prostituierten (Poppea) und deren finaler Inthronisierung als Kaiserin ein packender Erotikthriller der es in sich hat, dem man gespannt und aufmerksam folgt. Langeweile kommt nicht die Spur auf, dafür sorgen Calixto Bieito mit seinen gelungenen Einfällen, Sarah Derendinger mit der (manchmal auch blutigen) Videogestaltung und vor allem ein Ensemble, das mit vollem (auch körperlichem) Einsatz zur Sache geht. Dabei kommt auch das rein Vokale nie zu kurz, denn was die Künstler“innen (in allen Partien!!!) hier an sängerischer Qualität und Kunstfertigkeit präsentieren, ist allererste Sahne.
Julie Fuchs ist eine Poppea voller Sex Appeal, den sie auch sehr kalkuliert einsetzen kann, sieht atemberaubend aus, sei es in der Videoprojektion im Schaumbad turtelnd mit Nerone oder Live auf der Bühne im giftgrünen Trenchcoat, im lindengrünen Unterrock oder im strahlend weissen, luxuriösen Hochzeitskleid. Ihre Stimme setzt sie mal lasziv-erotisch, mal mit wunderbar perlender Klarheit ein. Der Nerone von David Hansen besitzt die für diesen Stimmtypus charakteristische Durschlagskraft und Geläufigkeit. Zudem vermag er stimmlich UND darstellerisch auch das Lunatische der Partie glaubhaft zu interpretieren, zum Beispiel da, wo er sich vor lauter Freude über den Suizid von Seneca auf ein homoerotisches Geplänkel mit Lucano einlässt, diesen aber nach der Befriedigung gleich abknallt. Nerone und Poppea sind wahrlich ein Paar, das sich gegenseitig „verdient“ hat. Ein überragende Leistung zeigt der Bassbariton Miklos Sebestyén als Neros Berater (und Gewissen) Seneca. Seine Stimme verfügt über ein wunderschönes, warmes Strömen, unaufgeregt, überlegt, traumhaft phrasierend und so die geforderte Ruhe des anerkannten Stoikers ausstrahlend. Emily d‘ Angelo fasziniert mit ihrer Eindringlichkeit in der Klage über die Verachtung, welche ihr Nerone durch seine Untreue entgegenbringt. Sie verfügt über eine bewundernswerte Autorität in ihren Auftritten und erschüttert dann umso mehr, wenn sie gebrochen von Rom und ihren Freunden Abschied nehmen muss, wegen der Verbannung ins Exil. Ihr zur Seite steht die Nutrice, die in Bieitos kluger Interpretation natürlich nicht mehr eine Amme ist (wer hat das schon noch im 21. Jahrhundert?), sondern der beste (schwule) Freund, mit dem sich viele Frauen gerne über ihre Ehe- und andere Probleme unterhalten. Diese Rolle scheint dem argentinischen Tenor Manuel Nuñez Camelino auf den Leib geschrieben zu sein. Er gibt die affektierte Drama Queen mit einer unglaublichen Glaubhaftigkeit, präzise bis in die Fingerspitzen. Auch an Stellen, an denen er nicht zu singen hat, ist er auf der Bühne präsent, schmachtet die Männer an, verfolgt natürlich gebannt die Sex-Szene zwischen Nerone und Lucano (herrlich kernig gesungen von Thomas Erlank, der auch den 1. Soldaten und den 2.Famigliare gibt). Wenn der sexy Nerone mit nacktem Oberkörper die (den) Nutrice dann nach dem Mord an Lucano im Vorbeigehen noch schnell auf den Mund küsst, erleidet der Arme natürlich einen Schlaganfall, von dem er sich kaum erholen wird. Nutrice himmelt aber auch den „nur“ heterosexuellen Ottone an, schnüffelt gerne mal an dessen Schuhen, die auf der Bühne rumliegen. Dieser Ottone ist ja Poppeas ehemaliger Geliebter, hat aber natürlich gegen den potenten Nachfolger keine Chance und ist so leicht von Ottavia zum Mord an Poppea zu überreden. Delphine Galou besitzt die schlaksige Figur, um diesen Jüngling glaubhaft zu verkörpern und ihm ihre so wunderschön warm timbrierte Stimme zu verleihen. Grossartig! Umwerfend gestaltet Deanna Breiwick die ehemalige Geliebte von Otttone, Drusilla (also die Vorgängerin Poppeas). In ihrem stilechten Marilyn-Outfit – weisser Pelz, Glitterkleidchen darunter, platinblonde Perücke – ist sie noch so gern bereit, ihrem Ex dieses Outfit zu leihen, damit er den Mordauftrag Ottavias ausführen kann. Ja, sie nimmt gar alle Schuld auf sich, nachdem der Anschlag fehlschlug. Frau Breiwick singt die schöne Partie mit wunderbarer Klarheit, naiver Leichtigkeit und dann viel Tiefgang nach ihrer Verhaftung und Folter. Davon ist dann auch Ottone gerührt, bekennt seine Schuld und die beiden dürfen gemeinsam in die Verbannung gehen. Den Mordanschlag vereitelt hat Arnalta, der Berater Poppeas, gesungen von Emiliano Gonzalez Toro. Er singt ihr ein wunderschönes Schlafliedchen, hat aber auch ein interessantes Gespür für philosophische Fragen, so in der Szene vor der Hochzeit, wo er über seinen gesellschaftlichen Aufstieg, aber auch gescheit über den Tod philosophiert.
Calixto Bieito treibt in seiner Inszenierung ein amüsantes und leicht verwirrendes Spiel mit den Geschlechtern und ihren Rollen, z.B. auch mit Valletto, der von einer Frau gesungen wird. Im streng geschnittenen mausgrauen Deux-Pièces kritisiert sie Seneca und enthüllt später erotische Fantasien, kann aber nicht wirklich aus der Strenge ihres Outfits ausbrechen. Bożena Bujnicka leiht dieser etwas rätselhaften Figur ihren weichen, sicher geführten lyrischen Sopran. Kurz vor dem Schluss versammeln sich alle nochmals (auch die Toten) mit weissen und schwarzen Flügeln unter einem Goldregen und mit herzförmigen goldenen Luftballons spielend im Himmel und feiern. Die hedonistische Party geht weiter, mit ungebändigter selbstdarstellerischer Lebenslust – auch wenn auf Erden das selbstveriebte Gebahren anscheinend nicht so ganz geklappt hat, denn auf den Bildschirmen ist zur Feier auch ein blutüberströmter Nerone zu sehen.
Ottavio Dantone leitet das Orchestra La Scintilla vom continuo aus mit absoluter Souveränität, da genügt ein kleines Nicken mit dem Kopf, ein Augenaufschlag oder eine kleine Geste mit der gerade mal freien Hand, um die Einsätze präzise zu organisieren. Fantastisch, wie er und das Orchester diese Musik (die ja nur sehr sparsam und bruchstückhaft überliefert ist) zum Leben erwecken.
Zusammengehalten wird die Handlung durch die drei sich im Prolog streitenden „Götter“ Fortuna, Virtù und Amore. Bieito zeigt sie als drei übermütige Teenies in weissen Hemden, Fortuna macht sich einen Riesenspass daraus, der Virtù durch das Ausziehen von mehreren Schichten Slips ihre Doppelmoral vorzuhalten. Das ist urkomisch, obwohl eine ältere Dame im Publikum sehr indigniert reagierte, als ihr einer der Slips auf den Schoss fiel. Sandra Hamaoui (Fortuna), Hamida Kristoffersen (Virtù) und der Countertenor Jake Arditti (Amore) singen hervorragend, haben erlebbar viel Spass an ihren Rollen und erfreuten mit ihren Zänkereien und Scherzen. Doch am Ende, als sich die beiden Stimmen von Poppea und Nerone zum ersten (und auch einem der zärtlichsten) Liebesduette der Operngeschichte verschlingen, sind auch die drei neckischen „Götter“ in andächtigem Lauschen versunken. Pur ti miro, pur ti godo – traumhaft schön interpretiert von Julie Fuchs und David Hansen.
Kaspar Sannemann, 16.9.2021
Schöne Bilder – Dank an (c) Monika Rittershaus