Zürich: „Salome“

Mit einer fulminanten Neuproduktion von Richard Strauss‘ Einakter SALOME startete das Opernhaus Zürich in die neue Saison. Nach 18 Monaten mit Streamings, technisch aufwändig ausgelagertem Chor/Orchester bei den wenigen Vorstellungen (vor sehr stark ausgedünntem Publikum) gibt es nun endlich wieder Aufführungen vor vollem Haus, mit dem Orchester im Graben und allen benötigten Mitwirkenden auf der Bühne. Gut so, da nimmt man das Tragen einer Maske und das Vorweisen des 3G Zertifikats gerne in Kauf, denn keine noch so ausgeklügelte Technik kann das Live-Erlebnis ersetzen. Und was für ein Erlebnis diese Premiere darstellte! Man saß während der 100 Minuten Spieldauer quasi mit angehaltenem Atem in einem Wagen auf einer rasanten Achterbahnfahrt, wurde mitgerissen in einem Strudel der Gefühle, der von Ängsten, Qualen, Brutalität und sinnlichem Begehren geprägt war. Die Aufführung wurde geradezu zu einer körperlichen Erfahrung, denn die Dirigentin Simone Young und die Philharmonia Zürich liessen es knallen, dass sich beinahe die Balken bogen – und das ist für einmal positiv gemeint! Strauss‘ schillernde und so faszinierend orchestrierte Partitur erklang mit unbändiger Wucht, fuhr regelrecht in den ganzen Körper ein. Simone Young bevorzugte recht forsche Tempi, reizte die für das relativ kleine Haus gerade noch erträglichen dynamischen Steigerungen und Explosionen bis zum letzten Dezibel aus, ging jedoch nie darüber hinaus.

Trotz gewaltiger orchestraler Ausbrüche blieb eine erstaunliche Durchhörbarkeit gewahrt, konnten schmerzerfüllte Seufzer der Streicher wahrgenommen und aufwühlende, schrille Dissonanzen der Holz- und Blechbläser, stampfende und subtile Rhythmen der Schlagzeug-Gruppe gehört und Leitmotive verfolgt werden. Durch die grossartige Leistung der Philharmonia Zürich gerieten die vielen orchestralen Passagen (nicht nur der berühmte Tanz der sieben Schleier) zu aufregenden Hörgenüssen. Trotz des schonungslos auftrumpfenden Orchesterapparats wurden die durchs Band weg grandiosen Stimmen auf der Bühne nie zugedeckt, ja die Textverständlichkeit war streckenweise gar exemplarisch. So beim Tenor Mauro Peter, dessen Rollendebüt als Narraboth begeisternd ausfiel; wunderschön phrasierte er sein Anschmachten der Salome, erschütternd seine Verzweiflung über ihre sexuelle Obsession mit dem Propheten Jochanaan. Dieser wurde von Kostas Smoriginas mit sonorem Bassbariton interpretiert. Er verstand es, die Liedhaftigkeit der (im Vergleich zu den andern Protagonisten) einfachen Melodik der Partie mit einnehmendem Schönklang zu transportieren und trotzdem ein abgründiges Funkeln in die Vordergründigkeit der Melodie zu legen. Herausragend in seiner Souveränität der Gestaltung interpretierte Wolfgang Ablinger-Sperrhacke den Herodes: Wunderbar textverständlich, nie ins Keifende, Schrille abgleitend, die ganze psychische Erbärmlichkeit der dekadenten Figur auslotend. Michaela Schuster als Herodias verkörperte überzeugend den Gegenpol zum abergläubischen Gebahren ihres Mannes. Sie war die knallharte, realitätsbezogene Herrscherin, die jedoch, als sie ihre Felle davonschwimmen sah, an den Rand des Nervenzusammenbruchs kam und dies auch vokal mit durchdringenden Schreien äusserte. Eine überaus faszinierende Interpretation. Im Zentrum steht natürlich die Titelfigur, die Prinzessin Salome: Elena Stikhina ist DER grosse Glücksfall für die neue Zürcher SALOME, sie bringt restlos alles mit, was für diese anspruchsvolle Partie benötigt wird, die vom ersten Auftritt an nonstop auf der Bühne steht und immer unter Hochspannung singen und agieren muss. Frau Stikhina hat optisch das jungmädchenhafte Aussehen der pubertierenden Salome, gepaart mit der darstellerischen Intelligenz, und stimmlich verfügt sie über die Agilität, die Kraft und auch die unbedingt notwendige Schönheit der Tongebung und Linienführung. Diese Salome ist ein WUCHT, von den subtil hingetupften Piani bis zu den exaltierten, aber immer klangschön gestalteten Ausbrüchen. Allen Gefühlen kann sie bewegenden Ausdruck verleihen, der Neugierde, der Verführungskunst, dem Trotz, der sexuellen Begierde.

In Szene gesetzt wurde diese Neuproduktion vom Intendanten persönlich. Andreas Homoki, Hartmut Meyer (Bühne) und Mechthild Seipel (Kostüme) liessen die Oper in einem abstrakten, symbolhaften Raum spielen. Hartmut Meyer entwarf dazu zwei Dreiviertel Mondscheiben, eine auf der Drehbühne, die zweite, ebenfalls bewegliche über den Köpfen der Darsteller schwebend. Entlang des düsteren Halbrunds des Bühnenhintergrunds bewegte sich eine Art Mühlstein, schien zeitweise vom Mond angetrieben zu sein, drohte alles und jeden zu zermalmen, der einen Ausbruch aus dieser geschlossenen Gesellschaft wagte. Dazu kam noch ein bewglicher, gezackter Laufsteg, der zur Spielfläche des liegenden Mondes führte. Die gesamte Anlage mit den schwebenden und vielseitig drehbaren Elementen erinnerte etwas an eine Skulptur von Alexander Calder und passte wunderbar zum Symbolismus des Textes von Oscar Wilde in der Übersetzung von Hedwig Lachmann, in der der Mond in all seinen Facetten eben das Sinnbildiche des „Lunatischen“ darstellt, auf das im ausgezeichnet gestalteten Programmheft hingewiesen wird. Andreas Homoki zeigte mit herausragender Personenführung die Abgründe in den Psychen dieser Menschen, gefangen in ihrer Dekadenz, die Apokalypse bewusst oder unbewusst erwartend. Jochanaan ist beileibe nicht einfach der brave, eifernde Täufer, der den Erlöser Jesus ankündigt, nein er ist ein Mann durch und durch, mit (unterdrückten) sexuellen Bedürfnissen, die von Salome aus dem Tiefschlaf gewckt werden, so dass er sich in ihrer ersten Begegnung auf sie stürzt, es zum sexuellen Akt kommt. So ist denn auch seine anschliessende Verfluchung der jungen Frau nur folgerichtig, weil sie in ihm etwas geweckt hat, was er aufgrund seines Glaubens verdrängt hatte. Im Schleier-Tanz werden zwar von Salome auch nach und nach Röcke abgelegt, sie entblättert sich bis aufs Unterhemd, doch der Tanz wird weit mehr als ein Striptease, er wird zu einem gedanklichen Abdriften ins Verbotene, in Tabubrüche, in den inzestnahen Beischlaf (Herodes/Salome), in die erotische Anziehungskraft zwischen Herodias und Jochanaan. Das ist alles sehr überzeugend dargestellt, ohne Peinlichkeiten (choreografische Mitarbeit: Arturo Gama).

Am Ende küsst Salome (den in ihrem Begehren kurzfristig wiederauferstandenen) Jochanaan richtig und nicht bloss den abgeschlagenen Kopf. Sie entschwindet dann allein, unerreichbar für die Soldaten, die sie auf Geheiss des Stiefvaters töten sollten. Dafür müssen Herodes und Herodias um ihr Leben bangen, die Juden stürmen die Mondscheibe, die Zeit des Umbruchs hat begonnen. In dieser neuen Zürcher SALOME sind es nicht nur fünf Juden, sondern jeder der fünf von Strauss vorgesehenen Juden wird noch durch zwei weitere Sänger unterstützt. Diese Idee ist schlüssig und sogar legitim, da Strauss selbst in einer Fussnote der Partitur eine Verstärkung durch „tüchtige Chorsänger nach Ermessen des Dirigenten“ erlaubte, wie Andreas Homoki im Gespräch im Programmheft darlegt. Die Wirkung jedenfalls ist so überzeugend, dass man das Judenquintett gar nicht mehr anders hören möchte, vor allem wenn man so tolle Sänger hat wie Iain Milne, Alejandro Del Angel, Marin Zysset, Andrew Owens und Stanislav Vorobyov, die unterstützt wurden durch Riccardo Botta, Diego Silva, Xuenan Liu, Fabio Dorizzi, Svellii Andreev, Andrjas Krutojs, Remy Burnens, Lusi Magallanes, Oleg Davydov und Flurin Caduff. Klangschön sangen die Nazarener Wilhelm Schwinghammer und Cheyne Davidson. Valeriy Murga und Alexander Fritze als Soldaten und Henri Bernard als Kappadozier bereicherten mit ihren Stimmen die ersten beiden Szenen, in denen auch Siena Licht Miller als besorgter Page vokale Glanzlichter setzte.

Ja, diese neue SALOME in Zürich ist wie eine Achterbahnfahrt – man sitzt gebannt und angespannt mit Gänsehaut im Nacken drin, aber nach dem sich die erste durch Mark und Bein gehende Erschütterung und der Nervenkitzel gelegt haben, möchte man gleich wieder einsteigen!

Kaspar Sannemann, 15.9.2021

Bilder (c) Paul Leclaire

Weitere Aufführungen:

12.9. | 15.9. | 18.9. | 24.9. | 30.9. | 3.10. | 7.10. |10.10. | 17.10.2021