Zürich, Ballett: „The Cellist“, Cathy Marston

65 Minuten greifbare, atemlose Spannung: Kein Husten, kein Rascheln von Bonbonpapier, nicht mal das Klingeln eines Smartphones – das Publikum konzentriert, gebannt, am Ende ergriffen und die Begeisterung begeisterten Applaus mündend. Die zukünftige Ballettdirektorin des Balletts Zürich, Cathy Marston, präsentierte mit THE CELLIST eine zutiefst bewegende Tanzschöpfung und damit einen vielversprechenden Einstieg in ihre Direktion, welche im September starten wird.

Cathy Marston ließ sich für THE CELLIST vom Leben der im Alter von nur 42 Jahren an Multipler Sklerose verstorbenen Ausnahmecellistin Jacqueline du Pré inspirieren, hat zusammen mit Edward Kemp ein Szenarium von chronologischen, prägnanten und konzis gearbeiteten Szenen erarbeitet. Dabei ging es glücklicherweise nicht um eine exakte Biografie, sondern im Zentrum stand der Weg einer talentierten Künstlerin, ja eines Wunderkindes, zu Weltruhm und auch zu persönlichem Glück, ein Weg der jäh brach, als die schnell und schmerzhaft voranschreitende Krankheit weitere Auftritte verunmöglichte.

(c) Warner Classics

Cathy Marston hat weitgehend alles vermeintlich Skandalöse und Boulevardjournalistische ausgelassen, konzentriert sich ganz auf die Cellistin, ihr intimes Verhältnis zu ihrem Instrument, ihre Euphorie und Lebenslust (sie wurde ja auch liebevoll „Smiley“ genannt) im Kreis der Musikerfreunde. Deshalb werden auch keine Personen namentlich auf der Besetzung aufgeführt, sie sind anonymisiert als Cellistin, Instrument, Dirigent, Schwester, Lehrer. Damit wird das persönliche Schicksal du Prés in ins Allgemeingültige, Parabelhafte gehoben. Gut so! Selbst als dann die Krankheit ausbricht, der Körper, die Hände und die Beine nicht mehr dem Willen gehorchen, der Kontrollverlust jegliches Musizieren (quasi ihr Lebensinhalt, da sie sich nie groß für etwas anderes interessiert oder begeistert hat, als das Spielen ihres Cellos) verunmöglicht, ihre Schritte und Bewegungen jäh abbrechen, ist man nie peinlich berührt, sondern leidet mit. Das liegt neben der wunderbaren choreografischen Arbeit der Protagonistin des Abends: Giulia Tonelli. Einmal mehr begeistert die Erste Solistin des Balletts Zürich mit einer Darstellungskraft, die unter die Haut geht und zutiefst bewegt. Als jugendlich, quirlige Cellistin, die jeden Wettbewerb gewinnt, mit fließender Eleganz, Humor und Anmut Publikum und Musiker-Kollegen begeistert ist sie genauso überzeugend wie als Frischverliebte, welche zum jüdischen Glauben konvertiert, weil der Dirigent (Esteban Berlanga) dies für eine Heirat zur Voraussetzung gemacht hatte. Ihre erotische Beziehung zu ihrem Instrument, das von Wei Chen mit fantastischer Einfühlsamkeit „getanzt“ wird, steht voll und ganz im Zentrum des Stücks.

Diese Pas de deux mit Wei Chen sind von unfassbarer Subtilität, die fragile Beziehung prägt den Abend. Dabei hat Cathy Marston für die beiden ein umwerfendes Bewegungsvokabular entwickelt, das „menschlichste“ aller Instrumente des Orchesters erwacht zu einem eigenen Leben (das ist dann auch der Beginn des Abends, wo Wei Chen quasi dem Cellokasten entsteigt, zur ersten aus dem Graben klingenden Cellokantile). Ziemlich genau zur Mitte der Choreografie kommt es zum zentralen Pas de trois mit der Cellistin, dem Instrument und dem Dirigenten. Das ist großartig gemacht und ausgeführt, das Instrument als eifersüchtiger Partner in dieser Ménage à trois. Esteban Berlanga ist ein differenziert tanzender Dirigent, verliebt (der erotische Akt der Hochzeitsnacht, die sexuelle Ekstase der beiden hervorragend umgesetzt von Berlanga und Tonelli) ungestüm, immer ambitioniert bleibend.

(c) Gregor Batardon

Gegen Ende, wenn die Krankheit seiner Frau immer dramatischere Züge annimmt, auch unbeholfen wirkend und sich distanzierend. Das ist von Cathy Marston sehr einfühlsam gezeichnet, ohne den Mann bloßzustellen. (Man muss sich vorstellen: Barenboim war beim Ausbruch der Krankheit seiner Frau 30 Jahre alt, stand am Beginn seiner einmaligen Karriere als Dirigent, ein junger Mann voller Tatendrang) Und nun, in diesem zweiten Teil des Abends, wo die Symptome der Krankheit offensichtlich werden, reift Giulia Tonelli zur kongenialen Interpretin von Marstons Choreografie. Die Beziehung zum Cello wird zur Hassliebe, sie stößt es von sich, der Dirigent bringt die beiden wieder zusammen, ein letzter Comeback Versuch wird unternommen, muss abgebrochen werden, es geht nicht mehr. Das lässt niemanden kalt. Wie Giulia Tonelli da zittert, Wut sich bemerkbar macht, auch Einsamkeit, das Cello von Wei Chen mit ihr trauert, das ist schon starke Kost. Mit unfassbarer Genauigkeit werden Muskelkrämpfe sichtbar, Stolpern, Zittern, falsche Töne, weil sie das Vibrato nicht mehr zu kontrollieren imstande ist. Die Szenen mit den Ärzten, Pflegern, die Rückkehr zur Familie, das alles läuft im Zeitraffer ab. Ihre Schwester (Inna Bilash) bringt ihr das Strick Jäckchen, das die Cellistin schon als kleines Mädchen getragen hatte (wunderbar erfrischend getanzt von Oceana Zimmermann), schließlich verglüht ein tragisches Künstlerschicksaal im Ohrensessel, nur die Schallplatte dreht sich weiter, das künstlerische Vermächtnis, das sie zur unsterblichen Legende macht.

Auch wenn sich Marston natürlich auf die drei Hauptpersonen Cellistin, Instrument und Dirigent konzentriert, hat sie dennoch einige wenige Nebenpersonen nicht vernachlässigt: Die Schwester (sehr elegant und mit wunderbar ausholenden Bewegungen: Inna Bilash), die ambitionierte Mutter (Mélissa Ligurgo vermag wunderbar Strenge, Liebe und Fürsorglichkeit auszudrücken), der liebevolle Vater wird von Daniel Mulligan dargestellt, die Musiker-Freunde und die Cello-Lehrer (man muss weder Casals, noch Rostropowitsch, noch Zubin Mehta, Pinchas Zuckerberg, Itzhak Perlman erkennen, denn wichtig sind die Atmosphären, nicht die Personen!) werden prägnant von Kevin Pouzou, Matthew Knight, Lucas Valente, Mlindi Kulashe, Mark Geilings, Anthony Tette dargestellt.

Hildegard Bechtler hat ein wunderbar stimmiges und funktionales Bühnenbild geschaffen, mit drei elegant geschwungenen, leicht beweglichen Elementen auf dem Boden und einem entsprechend geschwungenen Lampenbogen, der über der Bühne schwebt. Diese vier Elemente greifen geschickt Bauteile des Cellos auf. Ein Kritikpunkt ist die Beleuchtung (Jon Clark), welche die Bühne meist in ein eher diffuses, aber schön warmes Licht taucht. Für meinen Geschmack (und mein Sehvermögen) dürfte es gerne ab und an eine Spur heller sein. Die an die 50er/60er Jahre angelehnten, weich fallenden Kostüme von Bregje van Balen sind sehr tänzerfreundlich und kommen den sanft fließenden Bewegungen – inklusive Spitzentanz – wunderbar entgegen.

(c) Gregor Batardon

Genauso genial wie Choreografie und Ausführende ist die musikalische Seite der Produktion. Philip Feeney hat eine Partitur geschrieben, die in jedem Moment dichte atmosphärische Stimmungen evoziert. Er hat Elemente aus du Prés Repertoire von Edward Elgar, Ludwig van Beethoven, Gabriel Fauré, Felix Mendelssohn Bartholdy, Alfredo Piatti, Sergej Rachmaninow und Franz Schubert geschickt in seine Komposition einfließen lassen. Lev Sikov spielt die verführerischen Kantilenen des Cellos aus dem Graben mit herrlich warmem Ton, einem Ton, dem man sofort verfällt. Kateryna Tereshchenko spielt mit weichem Anschlag am Klavier zusammen mit ihm die kammermusikalischen Passagen und die Philharmonia Zürich unter Paul Connelly untermalt das Geschehen mit farbenreichem Musizieren aus dem Graben. Vor allem Jacqueline du Prés Signature-Piece, Edward Elgars Cellokonzert, klingt in entscheidenden Momenten immer wieder an – und mit dieser elegischen Melodie im Ohr geht man bereichert, aber auch ergriffen von einem traurigen Künstlerschicksal hinaus in die dunkle, regnerische Nacht.

Kaspar Sannemann 16. Mai 2023


The Cellist

Cathy Marston

Opernhaus Zürich

13. Mai 2023

Musik: Philip Feeney