Zürich: „Lakmé“, Leo Delibes

Weit, weit muss ich zurückdenken, lange, lange habe ich im Opernhaus Zürich nicht mehr einen derart immensen Ausbruch eines Begeisterungssturms erlebt wie nach der von Sabine Devieilhe so unfassbar überwältigend vorgetragenen „Glöckchenarie“ in Léo Delibes Lakmé. Aus gefühlt 1000 Kehlen erschollen Brava-Rufe für eine Darbietung, die nicht von dieser Welt schien. Sabine Devieilhe begann mit dem Rücken zum Publikum gewandt mit ihrer a capella so wunderbar die exotische Stimmung einfangenden Vokalise, begann mit fantastischer, reiner und wunderbar lyrischer Tongebung die Erzählung Où va la jeune indoue, fille des parias, setzte an zur Perlenkette der Koloraturen, von kristalliner Klarheit und doch mit warmer Tongebung. Ein Wunder! Ohne jeglichen Druck auf der Stimme, weich fliessend, ja himmlisch schwebend und eine Pianokultur, ja gar Pianissimokultur pflegend, die sowohl zutiefst rührte als auch verblüffte. Besser geht das nicht. Dabei blieb immer klar, dass die Arie kein oberflächliches Bravour-Vehikel für eine Primadonna oder Stimmakrobatin ist, sondern dass sie zu diesem Gesang durch ihren Vater Nilakantha gezwungen wurde, weil er damit hoffte, den Engländer Gérald aus seinem Versteck zu locken, der verbotenerweise in das Heiligtum der Brahmanen eingedrungen war und seine Tochter verführt hatte.

(c) Toni Suter

Obwohl dies eine konzertante Aufführung war, kam durch die halbszenische Einrichtung von Natascha Ursuliak und das ausdrucksstarke, darstellerische Engagement aller Beteiligten eine Vorstellung zustande, der man mit nie nachlassendem Interesse folgte. Das Faszinierende war, dass nicht nur die Lamké von Sabine Devieilhe im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, sondern dass alle neun Künstler, der Chor der Oper Zürich und die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Alexander Joel zu einem packenden musiklaischen Erlebnis beitrugen.

Edgardo Rocha sang einen zutiefst beeindruckenden Gérald, dieser kolonialistische Engländer, der fern der Heimat der Doppelmoral frönt, sich hier in der Fremde Bedürfnissen hingibt (Liebe zu einem jungfräulichen, blutjungen Mädchen), welchen er in seiner gewohnten Umgebung nie sich traute, nachzugeben. Rochas Stimme klingt wunderbar gerundet, fein austariert in der Dynamik, sich aufs Schönste mit seinen Partnern verschmelzend. Sein schwärmerischer Ton, das wunderschöne Legato in der Arie des ersten Aktes (Fuyez chimères!) und die wunderbaren Phrasen im anschliessenden Duett mit Lakmé waren wahrlich exquisit, ein Verschmelzen zweier grandioser Stimmen. Der kanadische Bassbariton Philippe Sly als Lakmés Vater Nakanthila beeindruckte mit einer der schönsten tiefen Männerstimmen, die ich in letzter Zeit gehört habe. Was für eine fantastische Rundung des Klangs, welch eine Dynamik, von stupender Sonorität und problemloser Höhe. Schon fast zu schön für den rachsüchtigen Brahmanen Priester, der durch Philippe Slys Gestaltung mehr die fürsorgliche väterliche Seite zeigte, als die des rebellischen, geächteten Priesters.

Siena Licht Miller sang als Mallika zusammen mit Sabine Devieilhe das berühmte Blumenduett. Ihre wunderbar präsente, samtene Mezzosopran Stimme kontrastierte aufs Schönste mit Devieilhes lichtem, lyrischen Sopran. Das Blumenduett ist ja neben der Glöckchenarie der zweite „Hit“ der Oper, bekannt aus Werbespots (Doritos, Air France, T-Mobile), Filmen ( Meet the parents mit Robert de Niro und Ben Stiller, The Hunger mit Catherine Deneuve, Susan Sarandon und David Bowie) und TV-Serien (The Simpsons, How I met your mother, Smalville). Aber hier in Zürich klang diese Blumenduett in keinem Moment abgedroschen, sondern frisch und einfach wunderschön.

(c) Toni Suter

Wie überhaupt die ganze, leider so selten gespielte Oper von Léo Delibes keinen einzigen schwachen Moment hat, jede Phrase ist von gefühlsintensiver Schönheit. Eine Schönheit, die auch in den mittleren und kleineren Partien zum Ausdruck kam: Sandra Hamaoui lies ihr herausragend schönes Timbre als Ellen (Géralds Verlobte) bezaubernd aufblitzen, Björn Bürger gestaltete den Frédéric mit hinreissender stimmlicher Eleganz (wie gerne möchte man diesem wunderbaren Bariton öfters mal wieder auf der Zürcher Bühne begegnen), Božena Bujnicka ließ als Rose (Cousine von Ellen) aufhorchen (sie hat eindeutige größere Rollen in Zürich verdient!) und Irène Friedli machte die Mistress Benson (Gouvernante von Rose und Ellen) dank ihres wie stets untrüglichen Bühneninstinkts und der musikalischen Gestaltung zur prallen Figur. Das Quintett Hamaoui, Bujnicka, Friedli, Bürger und Rocha im ersten Akt war hinreißend. Saveliy Andreev schließlich gestaltete mit seinem traumhaft schönen Timbre einen berührend sensiblen Hadji.

Alexander Joel hielt die Fäden der Aufführung mit klarer, aufmerksamer Zeichengebung zusammen, die Musik schien aus seinem ganzen Körper zu strömen, er erzielte durch weit ausholende Armbewegungen und oft gar tänzelnde Schritte auf dem Dirigentenpodest eine dymanisch und rhythmisch wunderbar präzise Wiedergabe. Die Philharmonia Zürich blieb der Partitur Delibes nichts an interessantem Kolorit schuldig. Der Chor der Oper Zürich (Einstudierung: Janko Kostelic) erweckte insbesondere das Genrebild der indischen Marktszene zu farbenprächtigem Leben.

Drei restlos ausverkaufte, umjubelte Vorstellungen konnte das Opernhaus Zürich mit dieser konzertanten Produktion feiern – vielleicht ließe sich auch einmal über eine szenische Produktion nachdenken?

Kaspar Sannemann, 19. April 2023


Léo Delibes: Lakmé

Zürich, Opernhaus (konzertant)

15. April 2023

Dirigat: Alexander Joel
Philharmonia Zürich