Zürich: „Roberto Devereux“, Gaetano Donizetti

Die Beziehungsgeflechte in dieser Oper, die am Hof Elisabeths I. spielt, sind komplex: Die Königin, damals auch die mächtigste Frau der Welt, muss sich in einer patriarchalen Welt behaupten, pflegt ihr Image als Virgin Queen, hat aber trotzdem das Bedürfnis nach (körperlicher) Liebe und umgibt sich mit jugendlichen Liebhabern. Ihr letzter ist 32 Jahre jünger als sie, Roberto Devereux, der Earl of Essex. In Donizettis Oper mit dem Text von Salvatore Cammarano nun begegnen wir der Königin in den letzten Jahren ihres Lebens. Der Regisseur David Alden und der Bühnenbildner Gideon Davey waren als Inszenierungsteam in Zürich verantwortlich für alle drei Opern Donizettis, die zusammen als Tudor-Trilogie bezeichnet werden. Alden zeigt uns eine Königin, die traumatisiert vom gewaltsamen Tod ihrer Mutter Anna Bolena durch das Beil des Henkers nicht in Würde älter werden kann. Es mutet schon fast lächerlich, jedenfalls bemitleidenswert an, wie sie sich als junges Mädchen kleidet, mit puppenhafter, leuchtend roter Perücke, sie erinnert fast an Bette Davis im Film Whatever Happened to Baby Jane.

(c) Toni Suter

Die kalten, marmornen Palastwände sind bedeckt mit unzähligen Porträts der Königin, die ihre strahlende und Ehrfurcht gebietende Schönheit darstellen und ihr Image aufrechterhalten sollen. In ihrer Seele sieht es jedoch ganz anders aus. Devereux betrügt sie, nicht nur politisch, sondern – und das wiegt in der Donizetti Oper schwerer – auch emotional, indem er seiner Liebe zur beträchtlich jüngeren Sara frönt. Die jedoch ist mit seinem besten Freund, dem Herzog von Nottingham, von Elisabeth quasi zwangsvermählt worden als Roberto Devereux mal wieder im Ausland weilte. All diese mixed emotions gilt es nun auf der Szene umzusetzen. Nach der etwas statisch geratenen Auslegeordnung im ersten Akt gelingt dies dem Inszenierungsteam sehr gut, die Inszenierung entwickelt einen eindrücklichen Sog nach der Pause und die Künstler offenbaren ihre emotionalen Befindlichkeiten mit Eindringlichkeit.

Stephen Costello in der Titelrolle besitzt eine wunderschön gerundete, in allen Lagen gleichmäßig sauber anspringende Tenorstimme. Er gestaltet den jugendlichen Sturm und Drang des Abenteurers Devereux energiegeladen, gibt die Hoffnung auf seine Errettung durch die Begnadigung der Königin selbst nach blutigsten Torturen im Kerker nicht auf. Seine Interpolationen in hohe Lagen in der Großen Kerkerszene gelingen nicht alle makellos, aber er hat wenigsten versucht, etwas belcantistische Stimmakrobatik in seiner Interpretation einzubauen. Inga Kalna als Elisabetta I. wirft nur so mit messerscharfen, stählernen Klängen um sich. Das ist vornehmlich laut, imponierend zwar, und dann doch wieder schmerzhaft schrill. Dass sie über ein tragfähiges Piano verfügt, lässt sie leider nur vereinzelt aufschimmern. Da sind auch fein ziselierte Läufe und einige Fiorituren zu hören. Insgesamt für meinen Geschmack zeigt sie aber doch zu wenig an messa di voce, an fein auf den Atem gelegten, im Piano gesponnenen, schwebenden Kantilenen. Aber sie singt, und das beeindruckt dann doch, mit stupender Intonationssicherheit. Rasend gerät das Finale II, wo Elisabetta vom Felsen herab Robertos Todesurteil verkündet: Dieses „va, la morte sul capo ti pende“ evoziert den gewünschten Gänsehaut-Effekt. Bei all dieser stimmlichen Kraft hätte man eigentlich ein Acuto in der finalen Cabaletta „quel sangue, versato“ erwartet – doch das bleibt aus.

Es ist zu vermuten, dass dieses fehlende Acuto der musikalische Leiter Enrique Mazzola zu verantworten hat. Er hatte im Vorfeld ja betont, wie weit sich Donizetti hier von der tradierten Belcanto Kunst entfernt habe, musikdramatisch gereift sei. Dies unterstrich er mit einem Dirigat, das vorwärtsdrängend war, Schroffheiten und abrupte Tempowechsel betonte. Die Philharmonia Zürich spielte das vortrefflich, setzte klare und transparente Akzente und so wurden die vokalen und emotionalen Balanceakte auf der Bühne aus dem Graben wirkungsvoll unterstützt.

Anna Goryachova hatte die Partie der Sara innert weniger Tagen einstudiert, da die vorgesehene Sängerin krankheitshalber die Partie zurückgegeben hatte – wie übrigens, allerdings schon vor Monaten, auch Diana Damrau die Partie der Elisabetta, für die sie sich selber als noch nicht reif genug empfand. Frau Goryachovas Rollendebüt war großartig. Ihr kräftiger, beweglicher Mezzosopran und ihr leidenschaftliches Spiel loteten die Partie der unglücklich verheirateten jungen Frau tiefgründig aus. Darstellerisch etwas steifer aber dafür mit baritonalem Schönklang und fantastisch disponierender Kraft debütierte Konstantin Shushakov als Nottingham. Er glänzte vokal nicht nur in seiner Großen Kavatine im ersten Akt, sondern bereicherte mit seiner stimmlichen Ausdruckskraft auch die Duette mit Sara, Roberto und Elisabetta und das große Terzett im zweiten Akt. Ganz so häufig taucht Roberto Devereux, diese sängerisch große Herausforderungen stellende Oper aus Donizettis letzter und reifster Schaffensperiode, nicht auf den Spielplänen auf. So erstaunt es nicht, dass die gestrige Premiere im Opernhaus Zürich Rollendebüts für alle Mitwirkenden beinhaltete, außer für Stephen Costello in der Titelpartie – er hatte den Roberto bereits 2014 in Dallas verkörpert. Die Nebenfiguren wurden von Regisseur David Alden wichtig genommen und erhielten durchdachtes Profil. So der wie ein verhuschtes Weib geisterhaft durch das Geschehen schleichende Lord Cecil von Andrew Owens, der massige Sir Gualtiero Raleigh von Brent Michael Smith, der Page von Aksel Daveyan und der mitfühlende Vertraute der Nottinghams (Gregory Feldman) sowie der Henker (Francesco Guglielmino, stumme Rolle).

Die von Gideon Davey konzipierten Wände aus grün-grauem Marmor, welche die Kälte und Enge des Palastes symbolisieren, sind fester Bestandteil aller drei Bühnenbilder, doch ihre Ausgestaltung verändert sich in jeder der drei Opern. Diesmal wirkt ein aufgeschnittener, riesiger, aus Marmorblöcken gemauerter Zylinder als Raumtrenner. Er wird von Manneskraft gedreht und herein- und herausgeschoben. Dies ermöglicht die schnellen Szenenwechsel. Auf die Szene kommen wie bei den vorangegangenen Werken symbolträchtige Elemente. Nun dominieren die eitlen Porträts der Königin an der Außenwand des Zylinders und ein etwas merkwürdiger Felsbrocken, den Elisabetta in gewichtigen Momenten der Oper erklimmen muss. Ein wichtiges Bild Heinrichs VIII., flankiert von seinen Kindern Mary (Bloody Mary) und Edward (Edward VI., der mit 16 Jahren starb) setzt einen gewichtigen Akzent. Es ist auffallend, dass Elisabeth auf dem Bild fehlt. Sie war als Tochter Anne Boleyns ein Bastard und litt damit während ihrer gesamten Regentschaft an diesem Makel an Legitimation auf dem Thron.

(c) Toni Suter

Beachtenswert ist das Lichtdesign von Elfried Roller, welches durch die Schattenwürfe der Protagonisten an die Marmorwand immer wieder für alptraumhafte Stimmung sorgt, eine Stimmung, wie sie in der Seele der Regentin und der weiteren Protagonisten vorherrscht. Die Personenführung von David Alden gewinnt im Verlauf des Abends an Intensität. Grandios spitzt sich die Schilderung der psychischen Verfassung Elisabettas im dritten Akt zu, sie erscheint nur noch im weißen Nachthemd, die Perücke ist verschwunden, ihr strähniges, schlohweißes Haar trägt sie nun offen, ihr Gang ist schleppend, hinkend, man spürt ihren körperlichen und seelischen Verfall. Inga Kalna stellt das großartig und berührend dar. Eindringlich ist auch die Vergewaltigungsszene in der Ehe der Nottinghams inszeniert: Nachdem Nottingham von der Untreue seiner Gemahlin erfahren hat, fesselt er diese mit dem Schal, den sie Roberto geschenkt hatte, an die Bettpfosten und vergewaltigt sie.

Der Chor hat bei all diesen Tudor-Opern eigentlich nur kommentierenden Charakter. Aber er steuert in einigen Szenen und Introduktionen doch stimmungsvolle Klangfarben bei. So zum Beispiel zu Beginn des zweiten Aktes, wo er mit Masken des Todes die Vorahnung auf das Todesurteil für Roberto heraufbeschwört. Für diese stimmungsvolle klangliche Ausgeglichenheit gab es zu Recht Szenenapplaus.

Wie schon bei den vorangegangenen beiden Tudor-Opern verwirrt eine gewisse Uneinheitlichkeit der von Gideon Davey entworfenen Kostüme aus verschiedenen Epochen leicht. Elisabetta tritt in den ersten beiden Akten in reichhaltigen, kostbaren Roben auf, ganz besonders bei den Staatsakten im zweiten Akt, wo ihr Spitzenstehkragen ins Absurde vergrößert wirkt – ein effektvoller Auftritt, mit dem sie ihre Unsicherheit zu kaschieren versucht. Sara trägt in den ersten beiden Akten lange Roben, die eher an die Entstehungszeit des Werks als an das elisabethanische Zeitalter erinnern, die männlichen Protagonisten sind mit hohen Lederstiefeln, Strumpf- und Pluderhosen und Wams dann wieder der Zeit der Handlung angenähert. Die Diener und die Krankenschwestern, welche die Leiche und den Kopf Anna Bolenas während des Vorspiels wegtragen, erwecken den Eindruck der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als Elisabeth II. Kind war. Was damit bezweckt werden sollte, wurde mit nicht ganz klar, denn die Skandale der Windsors sind doch nicht ganz mit den Vorgängen am Hofe der Tudors im 16. Jahrhundert vergleichbar.

Aber wie dem auch sei: Der Jubel des Publikums am Ende war enthusiastisch, alle Ausführenden und das Inszenierungsteam wurden mit Ovationen überschüttet.

Kaspar Sannemann, 6. Februar 2023


Gaetano Donizetti: Roberto Devereux

Zürich, Opernhaus

Besuchte Premiere 5. Februar 2023

Regisseur David Alden

Dirigat: Enrique Mazzola

Philharmonia Zürich