Oberammergau: „Passionsspiel Oberammergau:“

Aufführung am 15.07.2022

EIN QUICKLEBENDIGES FOSSIL DES MUSIKTHEATERS

Alles hier oben ist über alle Beschreibung schön

Als sich die Florentiner Camerata, eine Vereinigung von Musikern, Dichtern, Philosophen und Gelehrten in Florenz um das Jahr 1600 zusammengefunden hat, um im Geist der Renaissance das antike Drama wiederzubeleben, und damit eine neue Kunstgattung namens Drama per musica, geschaffen hat, geschah dies nicht aus dem Nichts heraus.

Von Gesang und Musik begleitete Aufführungen zur Passion und zur Weihnachtszeit waren seit dem Mittelalter verbreitet. Die Bibel war noch nicht ins Deutsche übersetzt, der Großteil der Bevölkerung konnte nicht lesen, und die Gottesdienste wurden auf Latein gehalten. Somit waren solche Kirchenspiele eine ideale Möglichkeit, dem Volk die Grundlagen der christlichen Religion anschaulich zu vermitteln.

In deutschen Handschriften des 13. Jahrhunderts sind zwei Passionsspiele bruchstückweise erhalten, eins davon ganz in deutscher Sprache.

Als die Oberammergauer zu Pfingsten im Jahre 1634 auf dem Friedhof über den Gräbern der Pesttoten eine Bühne aufschlugen, und erstmals das Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus zur Erfüllung ihres Gelübdes aus dem Vorjahr aufführten, haben sie sehr wahrscheinlich an eine vorbekannte musiktheatralische Tradition angeknüpft.
Pfarrer Joseph A. Daisenberger (1799 – 1883) schreibt in seiner Chronik: Wahrscheinlich ist schon vor dem Jahre 1600 die Leidensgeschichte des Herrn auch zu Oberammergau öfters, etwa in der Fastenzeit, als ein Akt religiöser Erbauung vorgestellt worden. Mir wenigstens scheint es, dass das Gelübde der Gemeinde vom Jahre 1633 nicht einen neuen, früher in der Gemeinde unbekannten Gebrauch einführen, sondern vielmehr einen uralten Brauch durch das bestimmte Versprechen regelmäßiger Übung für alle Zeiten festhalten wollte.

Aus einer Rechnung des Jahres 1674 geht hervor, dass es eine musikalische Umrahmung der Passionsspiele gegeben hat, da man den Herren Trompetern von Ettal 2 Gulden für ihre Mitwirkung bezahlt hat.

Für die Jahre 1600–1650 sind im bayerisch-österreichischen Raum ca. 40 Passionsspielorte belegt, über 250 für die Zeit von 1650 bis 1800.

Im 30-jährigen Krieg (1618-1648) bleiben die Oberammergauer zunächst von der Pest verschont, bis ein Mann, Kaspar Schisler, die Quarantäne umgeht, sich heimschleicht zu Frau und Kind und damit die Pandemie nach Oberammergau bringt. 84 Menschen sterben im Dorf an der Pest, worauf die Oberammergauer ein Gelübde ablegen: würden sie ab sofort von der Pest verschont, so geloben sie, künftig alle 10 Jahre die Passion aufzuführen. Und ab da, so heißt es, ist keiner mehr gestorben.

Diesem Umstand verdanken wir, ein regelrechtes musiktheatralisches Fossil auch heute noch erleben zu können, dessen strenge Regularien sich größtenteils in den fast 400 Jahren ihres Bestehens unverändert erhalten haben.

So sieht der Bart- und Haarerlass vor, dass alle Männer, außer jenen, die einen Römer verkörpern, von Aschermittwoch des Vorjahres an verpflichtet sind, ihre Haare und Bärte wachsen zu lassen, um beim Spiel echter zu wirken. Die Einschränkung, dass nur unverheiratete Frauen unter 35 Jahren mitspielen dürfen, ist in den 1980er Jahren gerichtlich aufgehoben worden. Auch die Mitgliedschaft zum katholischen Glauben ist inzwischen nicht mehr verpflichtend. Jeder der rund 5400 Einwohner darf mitspielen – die erwachsenen Darsteller müssen aber seit mindestens 20 Jahren in Oberammergau leben. Alle Rollen werden doppelt besetzt. Somit steht etwa die Hälfte des Dorfes auf der Bühne, darunter fast 500 Kinder. Manchmal sind – einschließlich Chor und Orchester – 800 Leute zugleich auf, hinter und unter der Bühne.

Auch der Chor, das Orchester und die Gesangssolisten kommen aus den Reihen der Dorfbewohner. In den spielfreien Jahren wird die Gesangstradition mit 3 Chören fortgeführt. Jedes Kind, dass ein Musikinstrument erlernen will, bekommt dieses Instrument kostenlos zur Verfügung gestellt, so dass auf diesem Wege auch der Fortbestand des Orchesters gesichert wird.

Die fünfstündige Aufführung beginnt nachmittags mit dem Einzug in Jerusalem und erzählt die Passionsgeschichte über das Abendmahl bis hin zur Kreuzigung. Sie endet in den Abendstunden mit der Auferstehung. Vom 14. Mai bis 2. Oktober gibt es 103 Vorstellungen. Nur montags und mittwochs ist spielfrei.

Das für die Passion errichtete Schauspielhaus ist 120 Jahre alt und fasst knapp 5000 Besucher. Es steht – wegen seiner besonderen Konstruktion und Technik – unter Denkmalschutz, auch aufgrund seiner historischen Bedeutung für das Volks- und Laientheater.

Das Passionsspiel selbst wurde 2014 von der Weltkulturorganisation UNESCO in die Liste des Immateriellen Erbes der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen.

Der musikalische Anteil am Passionsspiel umfasst mehr als 4000 Takte. Die gespielte Musik geht zurück auf den Oberammergauer Lehrer und Komponisten Rochus Dedler (1779–1822) und erklang erstmals bei den Aufführungen 1810. In ihr nahm er Anregungen aus der damals zeitgenössischen Opern- und Schauspielmusik auf.

Noch 1850 bestand der Chor aus nur 14 Personen. Im weiteren Verlauf des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es immer wieder kleinere und größere Veränderungen an der musikalischen Gestaltung. Zur Passion 1950 folgte eine grundlegende Überarbeitung durch den Komponisten und Dirigenten Eugen Papst. Seine Fassung wurde bis 1990 unverändert gespielt.

Für die Neuinszenierungen von 2000 und 2010 schuf der musikalische Leiter Markus Zwink (* 1956) Chöre, Ensembles und Arien für neu eingefügte und ausgetauschte Lebende Bilder (eine aus dem 18. Jahrhundert beibehaltene Besonderheit: Tableaux vivants) sowie atmosphärische Begleitmusik zu einzelnen Szenen der eigentlichen Handlung. Ebenso komponierte er im Zuge einer stärkeren Betonung des Jüdischen im Jesu Leben für die Szene der Vertreibung der Händler aus dem Tempel eine Vertonung des Schma Jisrael, das vom ganzen Volk gesungen wird. Mit Ausnahme dieses Stückes, für das er auf traditionelle jüdische Melodieformen zurückgreift, orientiert sich Zwink an der Musiksprache der Frühromantik.

Auch im Jahr 2022 basiert die Musik zum Passionsspiel in großem Umfang auf den Kompositionen von Rochus Dedler.

Im Laufe der Zeit erfuhr Dedlers Musik immer wieder Umarbeitungen und Erweiterungen. Auch die ursprünglich eher kammermusikalische Besetzung wurde dem großen Rahmen der jetzigen Passionsbühne angepasst. Im aktuellen Passionsspiel stehen im Normalfall 4 Gesangssolisten und 44 Choristen auf der Bühne, bei einigen Szenen sind es insgesamt 64 Sänger.

Im Orchestergraben sitzen 55 Instrumentalisten. Die Besetzung des Orchesters umfasst das klassische Holzbläserregister, neun Blechbläser, Pauken und Streicher.

Die Musik des Passionsspiels geht weit über die übliche Funktion herkömmlicher Bühnenmusik hinaus. Rein zeitlich gesehen, nehmen die musikalischen Auftritte zusammen mit der Präsentation der Lebenden Bilder etwa ein Drittel des gesamten Spielgeschehens ein.
In Arien, Solisten-Ensembles, dramatischen und kontemplativen Chornummern wird das Leidensgeschehen reflektiert und in Bezug zur Thematik der alttestamentarischen Lebenden Bilder gesetzt.

Das Passionsspiel ist in der aktuellen Fassung in elf Akte, Vorstellung genannt, unterteilt. Davon bildeten die Vorstellungen 1 bis 5 den ersten Teil, der um 14.30 Uhr beginnt. Nach einer dreistündigen Pause folgten von 20.00 Uhr an die Vorstellungen 6 bis 11. Das Ende der Aufführung ist gegen 23.00 Uhr. Dabei wechselten gesprochene Einleitungen, dramatisches Spiel und die Besonderheit der Lebenden Bilder einander ab. Die lebenden Bilder werden zu betrachtend-deutenden, vom Orchester begleiteten Chorstücken präsentiert und stellen in der Regel am Anfang eines Aktes einen typologischen Bezug zum Alten Testament her.

Im Jahre 1820 wurde das Passionsspiel zum letzen mal auf dem Friedhof an der Pfarrkirche aufgeführt. Mit diesem Jahr habe eine erstaunliche Popularität der Passionsspiele begonnen, berichtet die Chronik. nig Ludwigs I. Forderung, die Bühne nicht mehr auf dem Friedhof zu errichten, wird entsprochen und die Spielstätte an den Nordrand des Dorfes verlegt.

1851 veröffentlichte Eduard Devrient eine kleine Schrift über Das Passionsspiel in Oberammergau.

Unter den Gästen der folgenden Jahre finden sich zahlreiche bekannte Namen. Neben gekrönten Häuptern waren es auch immer wieder Musikschaffende, die die Aufführungen besucht haben. So war Anton Bruckner am 22./23. August 1880 zu Besuch bei den Passionsspielen in Oberammergau. 1900 waren die Opernsängerin Adelina Patti und der Dirigent Felix Mottl zu Gast. In der Folgespielzeit kam der Dirigent und Komponist Richard Strauss.

Im 31. Spieljahr (kriegsbedingt erst 1922) hat der italienische Komponist Giacomo Puccini die Passion besucht. Puccini arbeitete in dieser Zeit an seiner Turandot, und es lässt sich spekulieren, ob die Eindrücke aus Oberammergau in die Massenszenen dieser Oper mit eingeflossen sind.

In den 1960er-Jahren gab es Bestrebungen, die stark antisemitische Daisenberger-Version gegen eine älteren Text von Rosner auszutauschen. Der Komponist Carl Orff erklärte sich bereit, das Werk von Rosner zu vertonen. Jedoch kam aufgrund verschiedener Querelen 1970 doch wieder die Daisenberger-Version zur Aufführung.

Als belegt kann gelten, dass der Komponist Franz List im Jahr 1870 vor Ort war. Die Spiele wurden jedoch kriegsbedingt unterbrochen und ein Jahr später fortgeführt.

Unter dem Titel Richard Wagner und Oberammergau informierten die Passionsspiele, die mit dem Fliegenden Holländer 2017 erstmals ein Werk Richard Wagners auf dem Spielplan der passionsfreien Zeit hatten, die Leser ihrer Homepage und im Programmheft wie folgt:

1871 kam Richard Wagner – auf Anregung von Franz Liszt – nach Oberammergau und angeblich soll er hier zu seinen Bayreuther Festspielen inspiriert worden sein. Auf jeden Fall schrieb er damals in sein Tagebuch, dass hier alles „über jede Beschreibung hinaus schön“ ist. Ob ihm das Oberammergauer Passionsspiel wirklich gefallen hat, lässt sich nicht mehr herausfinden.

Ein Aufschrei ging durch die Wagner-Welt! Wagner bei den Passionsspielen? Oberammergau als Vorlage für die Bayreuther Festspiele??? – Mit einem Wagnerianer mag man Manches machen können, aber bestimmt nicht alles!!!

Weder in seinen Tagebüchern, noch in den Aufzeichnungen Cosimas fänden sich entsprechende Einträge! Wagners Beziehung zu seinem Schwiegervater Franz List sei zu diesem Zeitpunkt bereits so abgekühlt gewesen, dass man nicht mehr miteinander gesprochen habe! Bis 1870 im schweitzer Exil in Triebschen siedelte Wagner 1871 nach Bayreuth, um dort seine Festspiele zu schaffen. Somit habe er andere Dinge zu tun gehabt, als nach Oberammergau zu reisen!

Auch sei der Festspielgedanke zu dieser Zeit bereits 20 Jahre alt gewesen, so dass die katholische Passion gar nicht als Vorlage in Frage käme! Und seinen berühmten Satz: Alles hier oben ist über alle Beschreibung schön habe er mitnichten über Oberammergau, sondern während seines längeren Aufenthalts in König Ludwigs II. Jagdhütte auf dem Hochkopf am Walchensee in sein Tagebuch geschrieben! Und dass Richard Wagner, dessen Leben von zahlreichen Biografen dokumentiert wurde, unbemerkt die Spiele besucht habe, schließe sich wohl aus!

Der oben zitierte Absatz Richard Wagner und Oberammergau wurde daher als in allen Teilen widerlegt betrachtet.

Uns jedoch scheint die Sache noch nicht endgültig geklärt.

Richard Wagner und Eduard Devrient kannten sich persönlich und haben miteinander korrespondiert. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass Wagner Devrients Text aus dem Jahr 1851 über das Passionsspiel in Oberammergau kannte und dass er durch diese Schilderung zu seinen eigenen Festspielplänen angeregt worden ist, ist ebenfalls möglich.

Wir dürfen die Passionsspiele am 15.07.2022 besuchen und wollen versuchen, dieser Frage auf den Grund zu gehen.

Schon am Ortseingang treffen wir morgens auf einen vollbärtigen und langhaarigen Mann, der auf Nachfrage gerne berichtet, einer der Schauspieler zu sein, die am Nachmittag auf der Bühne stünden. Er wäre Teil des Volkes und würde so eine Art von Volksverführer darstellen.

Ob Richard Wagner wirklich in Oberammergau gewesen sei, wisse er nicht genau. Aber wir sollten den Christian Stückl fragen. Das sei der Spielleiter. Und wenn der Stückl sagt, dass Wagner in Oberammergau gewesen sei, dann würde das auch stimmen. Weil, wenn das nicht stimmen würde, dann würde der Stückl das auch nicht sagen!

Er gab uns noch mit auf den Weg, dass die Oberammergauer Passion nichts katholisches sei, was man unschwer daran erkennen könne, dass man in Oberammergau von DER Passion spräche. Denn wenn es etwas katholisches sei, dann müsste man ja DIE Passion sagen! Darüber sollten wir einmal nachdenken – was wir dann auch versprachen.

Und abschließend schickt er uns noch zum „Dedlerhaus“ gegenüber der Kirche, in dem Rochus Dedler, der die Passionsmusik komponiert habe, 1779 geboren worden sei. Dieses Haus sei später ein Gasthaus gewesen und habe „Zum weißen Lamm“ geheißen. Und dort habe Richard Wagner bei seinem Besuch in Oberammergau gewohnt.

Wir finden das Dedlerhaus und sprechen mit dem jetzigen Inhaber, der dort einen Souvenir- und Krimskrams-Laden betreibt. Ob es noch alte Gästebücher oder sonstige Aufzeichnungen gäbe, aus denen man erkennen könne, dass Richard Wagner im Ort gewesen sei. Unsere Hoffnung wurde enttäuscht. Im Hause gäbe es nichts entsprechendes, aber auch im Stadtarchiv sei nichts derartiges vorhanden. Aber möglich sei es schon, dass er vor Ort gewesen sei. Es seien ja so viele verschiedene Berühmtheiten im Dorf gewesen, da könnte der Wagner schon auch dabei gewesen sein.

Unsere letzte Hoffnung ist nun Christian Stückl. Christian Stückl (*1961) wurde 1987 Spielleiter der Passionsspiele in Oberammergau, die er 2022 bereits zum vierten Mal leitet. Nach der Einführungsveranstaltung zur Passion gelingt es uns, ihn persönlich zu sprechen. Wie es denn 1871 mit dem Aufenthalt von Richard Wagner in Oberammergau stehe; war er da und gibt es dafür Belege? Belege gäbe es keine, erfahren wir. In Bezug auf Wagner will Stückl sich jedoch nicht festlegen. Ob er wirklich hier gewesen sei, könne er nicht sagen. Spitzbübig fügt er hinzu: Aber wenn er hier war, dann weiß ich, wo er übernachtet hat!

Das Passionstheater ist auch an diesem Tag wieder ausverkauft. Über die Bühne des halboffenen Theaters schauen wir auf die Gebirgslandschaft. Trotz der großen Menschenmenge hat man bei dem leicht wehenden Wind nicht das Gefühl, sich einer Corona-Gefahr auszusetzen. Der Besuch der Oberammergauer Passion ist ein Lebensereignis. Viele Besucher warten Jahrzehnte, bis dass sie die Gelegenheit finden, eine Vorstellung besuchen zu können. Aus der ganzen Welt reisen die Menschen an. Mit dem Einsetzen der Bühnenmusik flüstert meine Sitznachbarin ihrem Ehemann zu: Ich bekomme richtig Gänsehaut!

Wir erleben etwas Erhabenes: Das Leben, Sterben und die Auferstehung Jesu Christi.

Welche Belastung jeder Einzelne der Darsteller in einem solchen Passionsjahr mit den Proben und Aufführungen neben den fortlaufenden Lebensaufgaben hat, erkennen wir, als eine der Chorsängerinnen in der ersten Viertelstunde kollabiert und geschwind und unauffällig von ihren Kollegen von der Bühne getragen wird. Es wird keinerlei Aufhebens darum gemacht; das Spiel geht weiter. Möglicherweise kommt so etwas ja auch öfter einmal vor. Es sind alles nur Menschen.

Gesprochenen Szenen, aktive Handlungen, die lebenden Bilder, Solisten und der Chor. Die ersten zweienhalb Stunden vergehen im Fluge. Um uns nach der langen Sitzerei etwas zu bewegen, beschließen wir, die Kreuzigungsgruppe zu besuchen, die nig Ludwig II. der Gemeinde aus Dank für die von ihm besuchte Sondervorstellung hat errichten lassen. Nach 30 Minuten Fußweg erreichen wir den etwas auf der Höhe gelegen Ort, von dem man einen wunderbaren Ausblick auf den Ort und das Passionstheater hat.

Eine Tafel erläutert: Am 25. September 1871 besuchte König Ludwig II. in einer Separatvorstellung das Oberammergauer Passionsspiel. Von der Darstellung des Leidens und Sterbens Christi war er so gerührt und erschüttert, dass er den Oberammergauer Passionsspielen zur bleibenden Erinnerung die monumentale Kreuzigungsgruppe stiftete…

Am 25. September 1871 besucht König Ludwig II. in einer Separat-Vorstellung das Passionsspiel. Nur vier Begleiter saßen mit ihm im sonst leeren Zuschauerraum, ist auf der Internetseite der Passionsspiele zu lesen. Einer dieser Begleiter sei der Prinz Ludwig von Hessen gewesen, recherchiere ich im Internet. Aber wer waren die drei anderen Begleiter? Ich wende mich an den Verband der Königstreuen um weitere Informationen zu bekommen. Der Vorsitzende meldet sich umgehend bei mir, und ist gerne bereit, mich in meinem Anliegen zu unterstützen. Die Namen der Begleiter des Königs kenne er auch nicht, würde aber, wenn gewünscht, den Kontakt zu König-Ludwig-Kennern herstellen.

Wir haben eine Idee: Uns beschäftigt immer noch die Frage, ob nicht doch Richard Wagner 1871 zu Besuch in Oberammergau gewesen sein könnte. Zu dieser Zeit hatte er mit seiner Arbeit am Parsifal begonnen, dessen Uraufführung zum Bruch zwischen ihm und Friedrich Nietzsche geführt hatte. Er habe einen Kniefall vor dem Katholizismus gemacht, hatte dieser ihm vorgeworfen. Hatte Wagner die Passion in Oberammergau erlebt und hatten diese Eindrücke ihn vielleicht sogar stärker beeinflusst, als er sich selbst zugestanden hatte? Ist der Parsifal vom Geist der Passion geprägt?

Dass sich ein Ehrenmann wie Richard Wagner unerkannt in Oberammergau aufgehalten habe, ist so gut wie ausgeschlossen.

Was aber, wenn sein Anliegen eher unehrenhaft gewesen wäre?

Wäre es nicht naheliegend, dass Ludwig II. den berühmten Theatermenschen und Musikdramatiker, den er bewunderte und den er für seinen Freund hielt, als Begleitung zu diesem Ausflug gewünscht hatte. Hätte Wagner seinem Gönner und Nennfreud eine solche Bitte abschlagen können? Es hätte Wagners Lebensart entsprochen, servil und stets zu Diensten zu sein, wenn er ihm dadurch gelänge, den König gnädig für weitere Geldzuwendungen für seine großen Projekte in Bayreuth zu stimmen. Alle hätten nur Augen für den König gehabt, so dass ein kleiner Mann mit einem Seidenbarett auf dem Kopf sich problemlos in seinem Schatten in der Apanage hätte verstecken können. Schließlich gab es schon genug Gerede über all das Geld, dass der König ihm hatte zukommen lassen. Spätestens Cosimas Geschichtsklitterungen und Vertuschungen hätten dann dafür gesorgt, dass nichts über diesen Ausflug bekannt geworden wäre.

Ob es wirklich so gewesen ist, ist ein Fall für die Musikwissenschaft.

Aber WENN Richard Wagner wirklich in Oberammergau war, dann weiß Christian Stückl, wo er geschlafen hat. Und wir wissen, wann es nur gewesen sein kann: am 25. September 1871.

Um 20:00 Uhr beginnt der zweite Teil der Vorstellung. Ein Pausenschwund der Besucher ist nicht feststellbar. Es handelt sich ja nicht um irgend ein Theaterstück, sondern um die Passion. Und vom Kreuz steigt man eben nicht herab; man geht den Weg bis zum Ende. Lediglich ein Mann ganz in unserer Nähe ist nicht wieder erschienen. Es wurde geflüstert, er habe in der Pause ein kleines Schlagerl gehabt, und sei inzwischen schon im Krankenhaus.

Mit der einsetzenden Dunkelheit und der entsprechenden Bühnenbeleuchtung wird die Darbietung nur noch eindringlicher. Die Darstellung der Kreuzigung geht unter die Haut; die anschließende Auferstehung berührt. Im Hinausgehen fasse ich den Vorsatz, in der nächsten Passion wieder herzukommen. Falls Wagner den Satz hier nicht gesprochen hat, dann spreche ich ihn jetzt: "Alles hier oben ist über alle Beschreibung schön"

Ingo Hamacher

Bilder: Birgit Gudjonsdottir