Oberammergau: Passionsspiele 2022

Fanfaren gibt‘s auch in Oberammergau. Nur werden sie eingespielt, nicht live vom Balkon geblasen – aber die Sitze sind genau so unbequem wie in Bayreuth, wenn man länger als zwei Stunden auf ihnen sitzt und sich kein Kissen mitgenommen hat.

Also Oberammergau: das Passionsspiel 2022, oder besser: das Passionsspiel, das in seiner äußeren Ausdehnung mit fünf Stunden reiner Spieldauer und einer dreistündigen Pause zwischen den beiden Teilen den Parsifal um eine Stunde schlägt – und hier wie dort ist der Anteil der Chöre gewaltig. Wer nach Oberammergau geht, hört, das ist auch das Schöne für einen Musikfreund, über weite Strecken eine große Musik, die den Standard von 1815 verbürgt. Rochus Dedler, Oberammergauer Schullehrer und gleichzeitig Chorregent (was sonst?), schuf damals eine Musik, die die Nähe zum jüngst verstorbenen Haydn, aber auch zum Neutöner Beethoven nicht verbergen kann, dabei auch schon ein bisschen wie Einiges aus Mendelssohns Oratorien klingt, ja: Wer nach Oberammergau fährt, erlebt auch ein musikalisch nicht überkomplexes, aber anspruchsvolles musikdramatisches Werk. Umso erstaunlicher, dass auch die 57, den Zuschauern unsichtbaren Spieler des Symphonieorchesters im tiefen Graben und die gut 60 Sängerinnen und Sänger keine Profis, sondern, wie all die anderen Spieler, aus dem Passionsspieldorf und der Umgebung rekrutiert worden sind.

Sie kommen, ein bisschen an die Amish People erinnernd, als zeitlos Trauernde in noblem Schwarzweiß mit dem ersten Takt auf die Bühne – und sie füllen sie aus. Die zahlreichen Auftritte, in denen sie die Lebenden Bilder begleiten und gleichzeitig auf das christliche Geschehen verweisen, gehören zu jenen Höhepunkten des Nachmittags und Abends, den Markus Zwink, der seit den Spielen 1990 zusammen mit Christian Stückl das Werk in die Moderne brachte, mit eigenen Akzenten versah. Zwink hat, wie in einer Werkstatt, einem work in progress gleich, vor allem 2010 das Passionsspiel musikalisch erweitert – und mit einer theologisch-historischen Bedeutung aufgeladen, die unserem heutigen Kenntnisstand und unserer Mentalität weit mehr entspricht als die Bühnenfassungen, die bis dato in Oberammergau zu hören waren. Das Schma Israel, intoniert von den Jungen, den Mittleren und den Alten, gehört 2022 zu den emotionalen Höhepunkten eines Spiels, in dem die Fußwaschungsszene mit einer sensitiven Musik begleitet wird (während Maria Magdalenas Fußeinölung erklingt übrigens, als wär‘s ein Stück von Wagner, auch eine leise Pauke), die zugleich den konkreten und den symbolischen Vorgang akustisch ausmalt. Wie nennt man das? Bewegend. Und bewegend ist es auch, die vier Solisten des erstklassigen Chors – wie gesagt: allesamt sog. Laien – bei der Arbeit zu hören, wenn sie ihre Soli anstimmen: die Sopranistin Katharina Osterhammer, die Altistin Caroline Fischer-Zwink, den Tenor Michael Pfaffenzeller und den Bass Anton Sonntag. Nebenbei: schon die Auftritte des Chors wurden geradlinig-grandios inszeniert: in kunstvoller Einfachheit, fast wie zufällig positioniert. Chapeau!

Sich vorzustellen, wie die Passion ohne die Musik klingen würde, die keine Folge von Einlagen, sondern integraler Bestandteil des Spiels ist, ohne dass sie allzu oft das Spiel selbst begleiten würde, liefe darauf hinaus, die Gleichzeitigkeit von Gestern und Heute, Mythos und Moderne zu leugnen – denn die eigentümliche Spannung zwischen dem seit Hunderten von Jahren erzählten und theatralisierten Geschehen und unserer Welt entspricht der Diskrepanz zwischen Dedlers und Zwinks Musik. In Oberammergau aber hat man es geschafft, der „klassischen“ eine gemäßigt moderne Musik an die Seite zu setzen, die selbst dort mit der traditionellen Musik zusammenpasst, wo sie etwas Neues bringt. Das Schma Israel gehört, wie gesagt, zu den Höhepunkten dieser Passion; mit ihm wird die Musikgeschichte Oberammergaus bedeutend weitergeschrieben. Doch schade, dass einzelne Spieler, etwa die Soloklarinette, nicht auf dem Besetzungszettel des Tages genannt werden; sie hätten es verdient, und dies nicht allein deshalb, weil der Einzug in Jerusalem, mit dem die Handlung beginnt, als Oberammergauer „Nationalhymne“ prachtvoll erklingt.

Mit dem Rhythmus kennt sich auch der Spielleiter Stückl gut aus. Wie er die Szenen mit den zum Teil Hunderten von Spielern auf der von Stefan Hageiner eingerichteten Bühne räumlich gliedert (beispielhaft: die Turba-Chöre der Gegner und Freunde Jesus‘), wie er die gewaltigen Cinemascope-Dimensionen der Passionsbühne bespielen und seine gerade sprechenden Theatersolistinnen und -solisten so agieren lässt, dass sie noch im Gewühl kenntlich werden: das hat Klasse. Wie im Nu ein Zelt über Jesus und den Jüngern errichtet wird, die dort ihr letztes Abendmahl feiern werden: das ist, mit einfachsten Mitteln, großes Theater. Genannt werden müssen: Frederik Mayet als einringlich-ruhiger Jesus, Martin Schuster als revolutionär gestimmter Judas Iskariot, Andreas Richter als politisch agierender und doch auf seine Weise ehrlicher Kaiphas, Walter Rutz als glutvoller Joseph von Arimathäa, Peter Stückl als Eiferer Annas, Carsten Lück als zynischer Pilatus, Eva Reiser als liebevolle Maria undundund…

Laientheater? Ja – aber ein über weite Strecken sprachlich genaues. Stückl und seine Mitstreiter haben es geschafft, aus dem einst theologisch vorschriftsmäßigen play ein tief ernsthaftes Theaterstück zu machen, das in weiten Strecken ein Politdrama ist, in dem es eher um Machtfragen im Jerusalem des ersten Jahrhunderts als um geistlich-geistige Fragen geht. Dass das eine das andere nicht ausschließt, sondern meist bedingt, gehört zu den Eigentümlichkeiten der Geschichte des Jesus Christus. Die Passionsspiele aber zeigen, wie ein in der Tradition wurzelndes, doch nach vorn weisendes, mit indirekt-direkten Hinweisen auf die Gegenwart ausgestattetes Stück heute aussehen kann. Dass die äußerst umfangreiche Musik mit ihren vielen Chor- und Solosätzen in diesem Gesamtkunstwerk ganz eigener Prägung so hineingehört, als könnte es nicht anders sein: auch dies macht die Oberammergauer Passionsspiele in ihrer künstlerischen Dignität zu einer Einzigartigkeit, die den 2014 verliehenen Titel des Immateriellen Weltkulturerbes voll verdient hat. Nur in Einem, aber wirklich nur in Einem muss man den Veranstaltern widersprechen: Richard Wagner war, auch wenn‘s auf der Homepage steht, nie in Oberammergau. Gut möglich aber, dass hier einmal der Parsifal inszeniert wird; der Fliegende Holländer war ja auch schon auf der Passionsspielbühne zu erleben. Hier wie dort wie auch im Passionsspiel geht es bekanntlich um die sog. Erlösung – wäre das nichts für den unermüdlichen Christian Stückl?

P.s.:

Am 9. September 1852 schrieb Wagner einen Brief an seinen einstigen Dresdner Dramaturgiekollegen Eduard Devrient, der sich gerade anschickte, die Karlsruher Intendanz zu übernehmen: "Durch die Leitung eines Theaters nützen Sie mehr, als durch alle Versuche, das Alte wieder lebendig zu machen, oder doch ihm zu einer unnatürlichen Fortentwickelung so zu verhelfen, wie Sie dies vor einiger Zeit dem Oberammergauer Passionsspiele zu tun versuchten! (Verzeihen Sie, lieber Freund, die vorgeschlagenen Wiederauffrischungsversuche des evangelisch-religiösen Geistes erinnerten mich etwas an die ehrbaren Pfleger des Oberammergauer Passionsspieles, die Herren Patres Jesuiten!)." Devrient hatte im Vorjahr eine kleine, 43 Seiten umfassende Schrift vorgelegt: Das Passionsschauspiel in Oberammergau und seine Bedeutung für die neuere Zeit. Devrient plädierte dafür, das "größte Geschichtsdrama", das mit "wirklich künstlerischem Geschick componirt" werden müsste, von einer Schar auserwählter Künstler neu bearbeiten zu lassen und in Szene zu setzen, damit in "zweimal drei Stunden" ein wahres Volkstheater auf die Bühne käme. "Das "Erhabenste der Kunst" jener Männer sollte also dafür sorgen, dem alten Spiel wieder ein Leben zu verleihen, das der Gegenwart angemessen sei. Eben dies ist um 2000 geschehen – und der Weg geht weiter. Für Wagner war das alles kalter Kaffee. Er zog es schließlich vor, ein neues Passionsspiel mit einer neuen Jesus-Variante zu schreiben, das seit 1882 – nicht alle zehn Jahre, sondern wesentlich öfter – die Massen anzieht. Gleich aber blieb der latente Kult-Charakter des (Musik-)Theater-Stücks, der auch in Oberammergau, nicht zuletzt durch die Bearbeitung des Passionsspiels durch Christian Stückl, inzwischen schwächer geworden ist – was der Ernsthaftigkeit und Hochstimmung des gesamten Unternehmens keinen Abbruch tut.

Die Spiele laufen übrigens noch bis 2. Oktober. Ich kann nur jedem, der an großem, durchaus etwas anderem Theater (und sehr guter Musik von 1815 und der Gegenwart) interessiert ist, sich auf zu machen in die bayerische Voralpenlandschaft. Es lohnt sich. Und erinnert das Festspielhaus mit seiner grandiosen Einfachheit nicht ein wenig an das Bayreuther

Frank Piontek, 20.9. 2022