Berlin: Brahms-Perspektiven IV

Konzert am 23.02.2019

Johann Sebastian Bach
Präludium E-Dur

Johann Bach
KLAVIERKONZERT Nr.2 E-Dur, BWV 1053

Aribert Reimann
FRAGMENTS DE RILKE, für Sopran und Orchester

Johannes Brahms
4.SINFONIE in e- Moll

Mit einem schlüssigen Programm, das um den Ton E kreiste, ging gestern Abend das einwöchige Brahms-Festival des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin zu Ende. Innerhalb von sieben Tagen wurden eine Klangperformance, ein Kammerkonzert und vier Sinfoniekonzerte mit grundverschiedenen Werken gestemmt, wobei als Ziel (und einmal am Beginn) jeweils eine der vier Brahms-Sinfonien stand, in Perspektive zu Werken, die von Schütz und Bach über Schumann, Wagner, Debussy zu Dutilleux und der gestrigen Uraufführung der FRAGMENTS DE RILKE von Aribert Reimann führte. Welch gewaltige Leistung des Orchesters, vor der man sich nur tief verneigen kann. Mit unablässiger Intensität und Präsenz wurden die unterschiedlichen Kompositionen interpretiert, gerieten die Brahms-Sinfonien unter Robin Ticciatis energiegeladener Lesart geradezu ereignishaft, ermöglichten den Zuhörern einen neuen, hoch spannenden Zugang zum Werk von Johannes Brahms – und am Ende auch zum Menschen J.B. Denn nach dem gestrigen Konzert lasen zwei Koryphäen der deutschen Theater-, Film- und TV-Szene, Corinna Harfouch und Sylvester Groth, Sequenzen aus dem Briefwechsel zwischen Brahms und seiner tief verehrten und angebeteten Clara Schumann, Briefe, die zwischen 1855 und 1893 geschrieben worden waren. Das war erhellend, manchmal erheiternd, dann wieder tief melancholisch, wunderbar eindringlich gelesen von den beiden Schauspielern und stimmungsvoll eingebettet in Brahms-Intermezzi für Klavier, zart und einfühlsam gespielt von Kristian Bezuidenhout.

Kristian Bezuidenhout hatte den Abend auch eröffnet, mit dem Präludium in E-Dur aus Bachs DAS WOHLTEMPERIERTE CLAVIER. Fast traumverloren stieg er in das Präludium ein (damit war der Bogen zu den Brahms-Intermezzi am Ende gespannt), begeisterte mit seinem weichen Anschlag, dezentem Einsatz des Pedals und einem Fluss, der auch mal stocken durfte. Quasi attaca (ohne Zwischenapplaus) stiegen Solist und Orchester ins Konzert für Klavier und Streichorchester Nr. 2 von Bach ein. Das machte durchaus Sinn, steht es doch ebenfalls in E-Dur. Glasklares Spiel des Solisten und der animierte Puls, den Ticciati und die Streicher des DSO Berlin im ersten Satz vorgaben, führten zu einer wunderbaren Verschmelzung von Klavier und Orchester. Subtil schlich sich der Klang des Flügels in den zweiten Satz ein, steuerte verhaltene Seufzer bei. Bezuidenhout spielte nicht mit oberflächlicher Selbstverständlichkeit, sondern sein Spiel beinhaltete stets etwas Suchendes, Tastendes, ein Vordringen in die Tiefe des Ausdrucks. Auch im dritten Satz führte die klug disponierte Dynamik zu wunderbaren Akzenten, die schönen Momente wurden delikat ausgekostet.

Aribert Reimann nahm, wie der Titel FRAGMENTS DE RILKE es ausdrückt, nicht Gedichte des Dichters als Grundlage für sin neues Werk, sondern eben Textfragmente, welche Rilke in französischer Sprache (im Schweizer Kanton Wallis) verfasst hatte. Sie kommen wie klug gefasste, allgemeingültige und somit aktuelle Aphorismen daher, kreisen um Vergangenheit, Zukunft, Fragen des Seins, der Erde und der daraus aufsteigenden Liebe. Wunderbare Texte, die Reimann in ein schlüssige Form gebracht hat. Aus acht Vierergruppen besteht das Orchester: Vier Flöten (von Piccolo bis Bassflöte), vier Klarinetten (von der kleinen bis zur Kontrabassklarinette), vier Blechbläser (zwei Trompeten, zwei Posaunen), je vier erste Geigen, zweite Geigen, Bratschen, Celli, Kontrabässe. Das durchkomponierte Werk erhält seine Struktur durch ein Prélude und drei Interludes, dazwischen interpretiert die Sopranistin die Rilke Texte. Da Rachel Harnisch kurzfristig wegen Krankheit absagen musste, sprang Sarah Aristidou ein – und obwohl sie die Partitur erst zwei, drei Tage vor dieser Uraufführung erhalten hatte, sang sie mit einer Selbstverständlichkeit die schwierigen Intervallsprünge und Verzierungen, als hätte sie diese Musik mit der Muttermilch eingesogen. Chapeau! Ihre Stimme zeichnete eine wohl dosierte Expressivität aber auch Leichtigkeit aus. Auch wenn sie in extreme Regionen vordringen musste (wie in Nr.IV) blieb ihr Ausdruck kontrolliert. Auch die Nr. V („Alles was geschieht, setzt eine Maske auf unser Antlitz“, so beim ersten Anhören mein persönlicher Favorit), verlangte stimmlich alles von der Sängerin ab, ein Wahnsinn! Ganz herrlich auch die Nr. VII, mit der so gefühlvollen, zart interpretierten Phrase „C’est pourtant en nous le secret de la vie et non pas chez de Dieux“. Ein sanftes Melos, grundiert von grellem Blech. Reimann arbeitet in diesem Werk zwar mit rhythmischen und klanglichen Reminiszenzen, welche Orientierungshilfen darstellen, auch sein überaus gesanglicher Kompositionsstil erleichtert den Zugang – und doch müsste man sich das Werk mehrmals anhören, um vertrauter mit ihm zu werden. Zeitgenössische Kompositionen erreichen selten auf Anhieb das Herz der Hörer, doch immerhin ist es Reimann gelungen, meines wenigstens phasenweise zu berühren. Robin Ticciati leitete die auf dem Podium klar gruppierten 32 Musiker des DSO Berlin mit präziser Zeichengebung und engagiertem Impetus. Interessant war, dass auch Reimann (obwohl er zur Zeit des Kompositionsauftrags nicht wusste, in welcher Konstellation von andern Werken die FRAGMENTS gespielt werden würden) ebenfalls mit einem tiefen E beginnt und es am Ende ganz zart mit dem viergestrichenen E der Violinen verklingen lässt. Großer Beifall für den anwesenden Komponisten und die grandiose Sarah Aristidou!

Nach der Pause erklang dann Brahms’ vierte und letzte Sinfonie, in e-Moll. Nachdem die erste in der kleinen Meininger Besetzung aufgeführt worden war, setzte Ticciati nun auf die ganz große Besetzung, mit 16 ersten Violinen. Klar arbeitete der Dirigent die feinen Verästelungen der Themen heraus, wie immer bei seinen Interpretationen der Brahms-Sinfonien zügig vorwärtsdrängend, ohne aufgesetzte Sentimentalität oder gar Behäbigkeit. So klingt Brahms ungemein spannend, und ja, trotz aller in sein Werk einfließender Bezugnahme auf Bach und andere alte Meister, eben auch „modern“. Auch mit der großen Besetzung war da nichts an bleierner Schwere spürbar, die Dialoge erste/zweite Violinen waren voller Spritzigkeit, die Reprise des Hauptthemas erklang mit Zug nach vorne und voller Emphase. Der zweite Satz war geprägt vom fantastisch sauberen Hornklang, einer gewaltigen Steigerung in der Mitte und exzeptioneller klanglicher Transparenz. Ganz toll spielte auch die Klarinette. Und doch: Brahms konnte in seinen langsamen Sätzen (wenigstens bei mir) wenig Emotionen wecken, was wiederum erstaunlich ist, denn die Klavierintermezzi bei der Lesung am Ende des Konzerts berührten mich ungemein. Überschäumend, sprudelnd und spielerisch gingen Ticciati und das spielfreudige Orchester den dritten Satz an, eine pure Freude. Was der zweite Satz (bei mir) verpasst hatte, gelang dem Finalsatz: Das Innehalten im Mittelteil, der Blick zurück, das war sehr berührend. Dann wieder der Druck aufs Tempo, ekstatische, aber Pathos freie Crescendi führten zum verdienten Jubel des Publikums in der voll besetzten Philharmonie für das DSO Berlin und seinen Chefdirigenten Robin Ticciati. Die Brahms-Perspektiven werden lange nachhallen und zu immer wiederkehrender Auseinandersetzung mit dem Werk und dem Menschen Johannes Brahms anregen.

Kaspar Sannemann 1.3.2019