Berlin: Brahms-Perspektiven I

Heinrich Schütz
Das ist mir lieb, Psalm 116 für Chor a cappella

Robert Schumann
Klavierkonzert in a-Moll

Johannes Brahms
Sinfonie Nr. 1 in c-Moll

Die vier Sinfonien von Johannes Brahms stehen im Zentrum des einwöchigen Brahms-Festivals des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter seinem Chefdirigenten Robin Ticciati. In insgesamt sechs Konzerten (vier Sinfoniekonzerte, ein Sonder- und ein Kammerkonzert) werden Wege zu Brahms und Wege von Brahms weg aufgezeichnet, die vier Sinfonien des Meisters also nicht einfach en suite gespielt, sondern eingebettet in Werke von Vorbildern, Förderern (wie z. B. Robert und Clara Schumann), Nachfolgern – daher der Übertitel des Festivals: BRAHMS-PERSPEKTIVEN.

Gestern nun in der Philharmonie das erste der vier Sinfoniekonzerte. Als zentraler Gedanke wurde hier der Gesanglichkeit der Brahmsschen Kompositionen nachgespürt. Obwohl Brahms keine Oper geschrieben hat, nimmt das Vokale in seinem Schaffen einen gewichtigen Platz ein, oft scheint es, Brahms denke in seinen Einfällen, Melodiebögen und Phrasen von der Stimme her. Auch leitete Brahms den Hamburger Frauenchor, mit dem er u.a. auch Werke von Heinrich Schütz aufführte. So wurde das gestrige Konzert also vom RIAS Kammerchor (einstudiert von Fabian Enders) eröffnet, mit Heinrich Schützs Motette für Chor a cappella DAS IST MIR LIEB (Psalm 116). Der RIAS Kammerchor glänzte dabei mit einer Reinheit, einer Balance der Stimmen, welche die Zuhörer beinahe in eine Art Trance versinken ließen. Wunderbar sonor das Fundament der Bässe, engelsgleich darüber schwebend die herrlichen Sopranstimmen, klangstark die klangliche Ausgewogenheit wahrend die Mittelstimmen. Sehr schön war, dass das Orchester auch während dieses a cappella Stücks bereits auf seinen Plätzen saß und den Gesang quasi aufnahm, um ihn dann im zweiten Werk, Schumanns a-Moll Klavierkonzert, fortzusetzen, darin in den Orchesterpassagen und im Dialog mit dem Solisten Igor Levit das Liedhafte der Komposition betonte. Allerdings war das nicht einfach ein so dahinplätscherndes, romantisches „Lied ohne Worte“, sondern das Konzert bekam durch die Tiefe der Interpretation durch Igor Levit etwas Suchendes, Tastendes, ja geradezu sperrig Bohrendes. Nur dank der immensen Präsenz Ticciatis und des Orchesters ließen sich die Fäden einigermaßen zusammenhalten. Levit spielte den Solopart ziemlich introvertiert, mit Rubati und Accelerandi frei umgehend, auf eine rasante Kadenz im ersten Satz zusteuernd (was prompt zu einem kurzen Zwischenapplaus führte …). Höchst konzentriert das Frage-Antwort Spiel zwischen Klavier und Orchester im zweiten Satz, dem Intermezzo. Mit perlenden Läufen auftrumpfend und mit kristallinem Spiel glänzte Levit dann im Allegro vivace des Finalsatzes, wunderbar, wie Ticciati dabei das Orchester zurückzunehmen im Stande war und so eine exzeptionelle Durchhörbarkeit garantierte. Außergewöhnlich dann die Zugabe, mit welcher sich der Solist für den begeisterten Applaus in der voll besetzten Philharmonie bedankte: Charles Valentin Arkans Prélude op. 31, Nr. 8 LA CHANSON DE LA FOLLE AU BORD DE LA MER. Eine wahre Entdeckung dieses Zeitgenossen Chopins, der (wie Chopin) praktisch ausschließlich für Klavier und Orgel komponierte. Dieses hoch interessante Stück, das über düsteren Bassakkorden der linken Hand einen quasi minimalistischen Gesang in der rechten Hand schweben, den Gesang der Verrückten zu einem gewaltigen crescendo anschwellen lässt, um am Ende wieder in dieser minimal music zu versinken, machte große Lust darauf, mehr von diesem Komponisten zu entdecken. Zugleich passte das Stück mit seiner reinen Gesangslinie in der rechten Hand wunderbar zum Motto dieses ersten Abends der Brahms-Perspektiven.

Nach der Pause dann also die erste der vier Brahms-Sinfonien, die c-Moll Sinfonie, die so lange Zeit im Meister gärte, bis sie endlich vervollständigt war. Spannend war, dass Robin Ticciati diese Sinfonie, die in ihren Ecksätzen so gewaltig und majestätisch daherkommt, in der kleinen „Meininger“ Besetzung spielen ließ. Die Hofkapelle Meiningen setzte ja unter Hans von Bülow quasi den Maßstab für die Orchesterliteratur des späten 19. Jahrhunderts. Und tatsächlich, so transparent, so „unschwülstig“ hat man dieser Sinfonie noch selten gehört. Das Klangbild war von einer Transparenz sondergleichen geprägt, vom unglaublich intensiven Gestaltungswillen des Dirigenten Robin Ticciati, der praktisch mit jedem Muskel, jeder Faser seines drahtigen Körpers die Musik direkt ins Orchester fließen ließ. Der Kopfsatz geriet so zu einem aufwühlenden Kampf, begleitet von Seufzern, Naturlauten und voller gesanglicher Sinnlichkeit. Auch hier waren einzelne Zuhörer so hingerissen, dass sie spontan Applaus spendeten. Warum auch nicht, ich sehe das nicht so eng … . Herrlich auch, wie Ticciati mit dem herausragend spielenden DSO Berlin im Andante sostenuto des zweiten Satzes bohrenden Fragen nachspürte, die beiden oft kritisierten (zu serenadenhaften …) Mittelsätze waren unter Ticciatis Dirigat nie langweilig. Warmer Streicherklang und die traumhaft schön gespielte Solovioline des Konzertmeisters Wei Lu, sowie die exzellenten Holzbläser vermochten zu begeistern. Luftige Entspanntheit und tänzelnder Charme prägten das Allegretto, das dann gegen Ende ins Festliche mündete und mit einem kluggesetzten Fragezeichen endete. Denn der Gipfel war noch nicht erklommen, der Finalsatz beginnt ja düster, geheimnisvoll, mit diabolischen Pizzicati, vorbeihuschenden Paukenwirbeln, bis dann die von den Hörnern blitzsauber intonierte, Alphornidylle und der Posaunenchoral die Wende bringen. Mit fantastischer Präzision hielt Ticciati hier die Fäden zusammen, das wirkte jedoch nicht akademisch, sondern echt gelebt, eine aufgeladene Dramatik brach sich Bahn, der exaltierte Ausbruch wurde nicht gescheut, und ohne Pathos erreichten die Musiker die alle und alles überwältigende Kulmination. Man ist echt gespannt und voller Vorfreude auf die Weiterführung dieses anspruchsvollen Brahms-Projekts. Bereits heute Abend folgt die zweite Sinfonie, diesmal kontrastiert von Werken für Violoncello von Henri Dutilleux.

Kaspar Sannemann 1.3.2019