Bayreuth: „Richard und Siegfried Wagner“, Orgelkonzert mit Ulrich Leykam

Die ISWG schenkt einem nichts. Oder anders: Die Freunde der Kunst Siegfried Wagners schenken einem alles.

Dies geht nicht allein aufs Konto der Tatsache, dass das Orgelkonzert in der Bayreuther Stadtkirche gegen eine Spende besucht werden kann; unfair ist’s da, wenn einige Zuhörer schon kurz nach dem Schlussakkord Fersengeld geben, bevor sich der Mann mit dem Spendenkörble vor die Kirchentür gestellt hat. Die Siegfried-Wagner-Freunde schenken einem alles – indem sie ein Konzert anbieten, in dem drei der vier gespielten Stücke zusammen gut 65 Minuten dauern. Das kürzeste Werk aber stammt von Wagner, Richard: eine reizvolle Orgelbearbeitung zweier Ausschnitte aus den „Meistersingern von Nürnberg“. „Orgeltranskriptionen“, so lautet die Überschrift des Programms, das der Spieler und Transkripteur Ulrich Leykam an den beiden Orgeln der Stadtkirche spielt. „Da zu dir der Heiland kam“ und „Wach auf, es nahet gen den Tag“, diese beiden Chor-„Nummern“ eignen sich hervorragend für eine Umsetzung auf dem wichtigsten Instrument der Kirchenmusik. Choral und Chor, das passt, und Leykam zieht denn auch beim „Wach auf“-Chor alle Register, d.h.: Die Orgel glänzt in vollem Forte – als würden wir an Kaisers Geburtstag oder am höchsten protestantischen Feiertag, irgendwann an einem wilhelminischen Vormittag, den Heiligen Geist in die Kirche einreiten hören. Das ist zwar gegen Wagners differenzierte dynamische Anweisungen gesetzt – aber es macht Wirkung.

© ISWG

Leider funktioniert das geplante Prinzip der Steigerung in der Übersetzung der „Rienzi“-Ouvertüre auf die Orgel nicht ganz so bruchlos. Es wirkt doch, als hätte der Bearbeiter das Werk gehörig in die Breite gezogen; damit werden leider die originalen Proportionen verschoben. Wagner wusste 1840, wieso die Ouvertüre thematisch und verlaufsmäßig so und nicht anders disponiert ist; in der Stadtkirche ertappt man sich beim Gedanken, dass weniger manchmal mehr ist. Allerdings sind wir bei Wagner ja auch Längen gewohnt – fragt sich nur, ob sie in diesem Fall im organistischen Nachvollzug noch himmlisch sind …

Wagner hat seine Ouvertüre zum „Rienzi“ ausdrücklich als „Ouvertüre“, nicht, wie auf dem Programmzettel angegeben, als „Vorspiel“ bezeichnet. Dagegen ist die Ouvertüre zu Siegfried Wagners Oper „Die heilige Linde“ ein „Vorspiel“, das mit guten Gründen als Symphonische Dichtung bezeichnet werden könnte (und wurde). Die Symphonische Dichtung „Glück!“ dauert normalerweise knapp 28 Minuten, die „Orgelstudie“ zu eben diesem „Glück!“ ist gefühlsmäßig nur wenig kürzer. Leykam hat seine im letzten Jahr am selben Ort gespielte Nachschöpfung überarbeitet und neu registriert, nun wabert Siegfried Wagners musikalische Abhandlung über die verschiedenen Wege, glücklich bzw. „glücklich!“ zu werden, durch die Stadtkirche. Das ist, seien wir ehrlich, für alle, die das Orchesterfassung nicht kennen, ein wenig anstrengend – aber doch auch orgelgerecht. Sind, fragt Achim Bahr von der Internationalen Siegfried Wagner-Gesellschaft zu Beginn des Abends, die zu Gehör gebrachten Werke „orgelgerecht“? Die Frage gebt verloren, denn ausnahmslos jedes Werk kann orgelgerecht sein, weil der eigen-artige Orgelklang, der dem Original angeschneidert wird, entweder der Vorlage entsprechend ist (wie im Orgel-„Rienzi“, wo schon der initiale Trompetenton, nb: Wagners kürzestes „Leitmotiv“, wie eine Trompete klingt) – oder so verschieden, dass die Transkription einen ganz individuellen Kunstcharakter erhält. So betrachtet, gibt es keine „falschen“ oder „richtigen“ Bearbeitungen, auch nicht an diesem Abend. Und wenn ein Werk Siegfried Wagners, das kaum im Konzertsaal, schon gar nicht in den Opernhäusern, live zu erklingen pflegt, lernt man eben die Orgelfassung oder eine „Studie“ kennen. So gehört, besitzen die geradezu Reger‘schen Ausmaße der „Glück!“-Studie ihren eigenen Reiz. Außerdem tendiert ausnahmslos jede in einer Kirche gespielte Orgelmusik dazu, quasi religiös zu werden – denn der Raum spielt, ob man will oder nicht, immer mit. Die „Orgelstudie“ reagiert also so gut auf den auferstandenen Christus des Altars wie auf die Emotionen der anwesenden Siegfried-Wagnerianer. Und während der „Heiligen Linde“ sieht der die Augen öffnende Zuhörer ganz anders auf den königsblauen Abendhimmel, der sich hinter den Fenstern des gotischen Chors allmählich auftat. Auch Siegfried Wagners Musik hat, man hört’s, Anteil an der Metaphysik, die jede gute Musik auszuzeichnen pflegt.

Für die spannendste musikalische Stelle des Abends konnte der Organist übrigens nichts. Es war reiner Zufall: Während der „Rienzi“-Ouvertüre drangen plötzlich die Trommelschläge der Montagsdemo durch die Kirchenwände in das Innere des Hauses. Plötzlich mischten sich die Marschrhythmen der Marsch-Oper „Rienzi“ mit den Aufmarsch-Schlägen der Dauerprotestierer. Es war surreal – und auf seltsame Weise stimmig.

Der Rest war Wagner – Richard UND Siegfried. Die ISWG schenkt einem eben alle(s).

Frank Piontek, 20. August 2024


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