Markgräfliches Opernhaus, 20.6.2021
Es gibt (mindestens) drei Dirigententypen: die Tänzer, die Dramatiker und die Sänger. Zu ersteren gehört Roger Norrington, Nikolaus Harnoncourt könnte man zur zweiten Gattung zählen – und Daniel Spaw zählt, wenn denn Vereinfachungen erlaubt sind, zur dritten Kategorie. Denn durch das Konzert der Bad Reichenhaller Philharmoniker zieht sich ein Gesang, der selbst dann zu hören ist, wenn‘s – wie in Francis Poulencs Sinfonietta – rhythmisch stark betont zugeht, vorausgesetzt, man verwechselt, wie Oliver Messiaen einmal gesagt hat, „Rhythmus“ mit relativ primitiven Betonungen.
Felix Mendelssohn Bartholdys Hebriden-Ouvertüre hebt schon subtil an. Normalerweise werden die Vortragsbezeichnungen kaum ernst genommen; hier aber herrscht über weite Strecken tatsächlich das piano vor – bevor das forte der anbrandenden Wellen seine vom Komponisten konzipierte Wirkung zu entfalten vermag. Flirrende Geigen, zarte Farben, ruhiges Tempo: derart realisieren die Reichenhaller eine bezaubernde klassizistisch-empfindsame Kammermusik, in der das lyrische Thema besonders cantabile herauskommt. Man setzt, man hört‘s – die trockene Akustik des Opernhauses mag ihn befördern -, auf einen Schönen Klang, den Thomas Mann vermutlich als „Fülle des Wohllauts“ charakterisiert hätte. Nicht erst in Samuel Barbers Violinkonzert, einem Werk der Tradition aus dem Geist des späten 19. Jahrhunderts, wird die Klangvorstellung klar. Charlotte Thiele, 21 Jahre jung, spielt den Solopart vom ersten bis zum letzten Takt mit Inbrunst, lyrischer Versenkung und einem französischen Instrument von 1775, auf dem Barbers schönheitssüchtige Musik optimal gebracht werden kann. Zuletzt, im Presto in moto perpetuo, das dem Konzert bei den Auftraggebern den Ruf des Unspielbaren einbrachte, kann sie zeigen, was sie darüber hinaus an technischen Finessen beherrscht; der Parforceritt durch die Welt der extrem schnellen Viererketten gelingt bravourös. Und die Reichenhaller halten mit, nachdem sie sich in den beiden ersten Sätzen, zumal im Andante, die rhapsodischen Höhepunkte des Werks erobert haben, die den Titel des Programms – Neo! – mit dialektischer Zweideutigkeit beglaubigen. Denn „neu“ ist hier nur das Kompositionsjahr und der – seinerseits modische – Bezug auf eine etwas ältere, darum doch nicht weniger vitale Musik als die der „neuen“ Komponisten.
War Francis Poulenc ein Komponist der Gegenwart? Zweifellos, auch wenn seine Tonsprache weniger zu verstören vermag als die des Zeitgenossen Pierre Boulez, der nur kurz vor der Komposition der Sinfonietta mit seiner berüchtigten 2. Klaviersonate die Musikwelt schockiert hatte. Poulencs Musik aber ist eine Musik der geistvollen Heiterkeit. Die Bad Reichenhaller Philharmoniker spielen sie mit Nonchalance und Witz, mit sprudelndem Esprit und dem Sinn für die brillantesten Farben. Man bekommt wieder Lust nach Paris zu fahren, wenn sie sich im Allegro con fuoco auf einen sommerlichen Stadtspaziergang und im Finale très gai auf die Spuren Haydns begeben, der gerade ins Variète gegangen ist.
Mit einem Wort: Es machte an diesem Abend einfach Spaß, dem einzigen Sinfonieorchester Südostbayerns und der brillanten wie hochmusikalischen Geigerin mit einem außergewöhnlichen Programm zuzuhören.
Foto: ©Andreas Harbach