Bayreuth: „Bayreuth Baroque: Carlo il Calvo“

Markgräfliches Opernhaus. Premiere: 3.9 2020. Besuchte Vorstellung: 5.9.2020.

Der König stirbt. Oder anders: Der Alte fällt tot vom Stuhl, als die ganze Familie an der großen Tafel sitzt. Und die Alte im Rollstuhl bricht in heftiges Lachen aus – sie kennt ja die immer gleiche Geschichte, die gleich von Neuem ablaufen wird.

Derart grotesk beginnt noch während der Ouvertüre, zwischen derem schnellen und langsamen Teil der Todesschrei des Patriarchen fährt, die Inszenierung der ersten Oper der ersten Auflage des Festivals „Bayreuth Baroque“. „Carlo il Calvo“: das meint Karl den Kahlen, aber die Titelrolle ist eine stumme, denn dieser Carlo ist nur ein Knabe, damit allerdings das begierige Objekt, um den sich die extrem widerstreitenden Interessen eben jener Familie drehen, die beim Tod des Alten zugegen ist. Die Oper könnte auch Carlo il Catalisatore heißen, denn der Kleine selbst bleibt unberührt von den Ereignissen. Dass es beim bereits im 17. Jahrhundert vertonten Libretto Francesco Silvanis um Machtkämpfe ging, die sich nach dem Tode Karls des Großen abspielten, war schon den Zeitgenossen egal, die die scheinbar historischen Handlungen umstandslos auf die eigene Zeit und ihren (zumindest theoretisch gepredigten) Wertekanon bezogen. Wo sich Brüder wie Mafiabosse bekriegen und Mütter wie Furien im Dienste ihrer zu schützenden Kinder auftreten, haben wir es nicht mit geschichtlichen, sondern mit modernen Sujets zu tun: zunächst mit Stories des sog. Barock, dann (wenn’s glückt) mit Geschichten, die man zumindest aus dem Kino kennt. Auch Carlo il Calvo webt an dem Stoff, aus dem noch immer des Kinos Albträume sind – ungeachtet des notorischen „lieto fine“, das in dieser Inszenierung eine augenzwinkernde Variante (siehe unten) erfährt. Und es bewegt dort, wo es um Emotionen geht, die jeden von uns besetzen können.

Nicola Porpora also! Max Emanuel Cencic, der Intendant des Festivals, der zugleich die Einstiegsoper inszenierte, hat ein wunderbares Ensemble zusammengefügt, um die Oper des immer noch viel zu unbekannten Komponisten zu realisieren. Als sein eigener Hauptdarsteller ist er primus inter pares und ein, pardon, Kastratenkavalier, der mit seinem butterweichen Sopran dem Nachfolger des toten Königs, also dem neuen Patriarchen, die optimale stimmliche Statur gibt. Dieser Lottario ist ein Mann, dem die Intrige mehr am Herzen liegt als der Zusammenhalt der Familie – ungeachtet der Tatsache, dass der Knabe Carlo, um den sich die Kämpfe drehen, tatsächlich kein Familienmitglied ist; es war der Bodyguard und nicht der nominelle Vater. Doch warum hat Cencic ausgerechnet den Porpora ausgegraben? Cencic hat schon Recht: „Ich habe ein Stück gesucht, das musikalisch brillant ist. Beim Lesen der Partitur fiel mir auf, dass sie unglaublich tolle Arien enthält. Ihr Vokalstil ist aufwendig und hoch virtuos. Das schien mir zur Eröffnung eines Opernhauses wie des Markgräflichen gut zu passen.“ Die Belohnung für den mit fünf Stunden kurzen Abend mit seinen über zwei Dutzend Arien ist schließlich ein enormer Beifallssturm.

Er entzündet sich auch an der Tatsache, dass Cencic zusammen mit seinen kongenialen Mitstreiterinnen die grandiose Idee hatte, die nur auf den ersten Blick verwirrende Handlung in das in jedem Sinne abblätternde Kuba der 20er Jahre zu verlegen, also dem Spielort einer möglichen telenovela. Giorgina Germanou entwarf den Bühnenraum samt herrlichem Palmengarten bei Nacht, Maria Zorba die stilsicheren Kostüme mit und ohne Glanz und Glitter, Dimitra Antonaki die schicke Choreographie. Erinnerungen an Miss Fishers mysteriöse Mordfälle, in denen die Killer so schick auszusehen pflegen wie in kaum einer anderen Epoche der Geschichte und die Frauen schlicht und einfach trendy sind, kommen nicht nur auf, wenn ein Oldtimer auf der Bühne steht, um den herum das Geballer anfängt. So spiegelt sich das Pathos und die große Geste, auch die Schäbigkeit der „Bösen“ im leicht abgewohnten Ambiente eines Herrenhauses, das schon bessere Tage gesehen hat, und in dem ein Bodyguard als Gangster Karriere machen kann. Wo der Patriarch selbst einer der größten Ganoven ist, wird das Barockdrama gleichsam zur Kenntlichkeit entstellt: oft mit einem Augenzwinkern, öfter noch mit einem echten Pathos, das zuletzt, vor dem üblichen Fest, bezwingend kulminiert. Viereinhalb Stunden lang hören wir Arien und Rezitative – dann plötzlich, o Wunder, hören wir, wie sich zwei Stimmen zärtlich ineinander verschlingen. Endlich kommt zusammen, was zusammen gehört. Julia Lezhneva und Franco Fagioli bezaubern das Publikum, und wir verstehen, dass das Liebesduett der Verzweifelten, das zum ersten und bis dato letzten Mal im Jahre 1738 in Rom erklang, nicht von Gestern ist. Schon gar nicht, wenn ein Ensemble wie die Armonia Atenea unter George Petrou die wieder zum Leuchten gebrachte Partitur mit Verve, aber doch auch so spielt, dass man keine Angst um die Darmsaiten haben muss: mit Pauken, zwei Hörnern und einer Trompete, die nicht allein in der Ouvertüre für schroffen Glanz sorgen; die Pauke ist auch im dramatischsten Rezitativ des Abends, wenn es buchstäblich um Leben und Tod geht, effektvoll dabei.

Es sind – eingebettet in eine äußerst kurzweilige, dabei sich nie in den Vordergrund spielende und doch belebte Inszenierung – natürlich die Sänger, die den Abend machen. Julia Lezhneva, keine Unbekannte im Markgräflichen Opernhaus, ist wieder eine Königin der Koloraturen, wenn sie wütet und schlussendlich jubiliert. Dass sie wesentlich mehr kann als ihre geläufige Gurgel einem sensationsüchtigen Publikum zu präsentieren, zeigt sie in ihren lyrischen Partien. Nicht allein in ihrer Tauben-Arie stellt sie Menschen, keine Singmaschinen auf die Bühne.

Franco Fagiolis Sopran besitzt einen zwitschernden Ton: ideal geeignet für den zunächst ängstlich gehemmten, aber auch lustigen (seine Lach-Arie ist schon brillant, während er Papa und die anderen Herschaften imitiert), schließlich über sich selbst hinauswachsenden Adalgiso, den integren Geliebten der Gildippe, die im Lauf der Oper eine Achterbahn der Emotionen hinter sich bringen muss und am Ende in einem schier hinreißenden Tanzlied die gesamte Mannschaft zu einer Shownummer im Stil der Zwanziger Jahre animiert. Man kann Charleston ja auch auf die Rhythmen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts tanzen… (eine Tanzeinlage, die von Ferne an Edouard Locks witzige Choreographie von Rameaus Les Sauvages, einem Teil der Boréades, in Robert Carsens Pariser Inszenierung von 2003 erinnert).

Lyrisch hochbegabt ist auch Nian Wang, die in ihrer kleinen Rolle als Eduige (die Tochter des von Suzanne Jerosme kraftvoll und luzide gespielten und gesungenen Muttertiers Giuditta, die am Ende den Anwalt der Familie bekommt, der vorher mit ihrer Mutter „rummachte“) durch große Subtilität auffällt; ihre Gleichnisarie vom Sämann, die man im 18. Jahrhundert als „empfindsam“ bezeichnet hätte, gehört zu den Höhepunkten des Abends, der pausenlos die Spannung hält. Pathos schließt bei Cencic Ironie jedoch nicht aus: unter Palmen wird auch mal gevögelt. Wenn Giuditta in Ohnmacht fällt, umfächeln sie erst einmal drei Damen – und Vorhang. Und bei Bruno de Sá, der dem Anwalt Berardo die Vitalität seines beifallprovozierenden Soprans schenkt, ist man nie sicher, was Spiel und was Verstellung ist. Musik und Inszenierung verschwistern sich, im Sinne der doppelten Thetralisierung, wenn eine Gleichnisarie Gildippes als Vorführung innerhalb des Theaters gezeigt wird, so dass die Damen der Gesellschaft und die Angestellten ihren freilich stummen Klatschrhythmus dazu geben. Wenn Suzanne Jerosme der Tochter in der heftigen „Pensa, che figlia sei“-Arie ihrer Tochter klar macht, dass sie ihr, der Mutter, zu gehorchen und sich von ihrem Geliebten Adalgiso abzuwenden habe, drückt sie gleichzeitig der uralten Rollstuhlsitzerin, der Großmutter der Familie, das Essen ins Gesicht – aus relativ statischen Arien wird immer wieder eine Aktion gewonnen, die das Gesungene weder verdoppelt noch negiert.

So setzt die Inszenierung immer wieder auf Pointen eigener Art. Die gravierendste dürfte die sexuelle Orientierung des Patriarchen sein, denn um das Oberhaupt, das gegen Carlos‘ Mutter um die Dominanz im Clan kämpft, herumzukriegen, setzt Asprando, der Bodyguard und wahre Vater des Jungen, zunächst erfolgreich seinen Körper ein, indem er Lottario provoziert, ihn, Asprando, heftig zu küssen (was Lottarios Trauer um den schließlich Getöteten motiviert) – so wie er ihn bei Giuditta in den Machtkampf führt. Kein Wunder, dass Petr Nekoranec den skrupellosen Kraftkerl nicht als Sopran, sondern als vokal höchst wendiger Tenor gestaltet. Sex ist übrigens nicht alles, aber vieles in dieser Inszenierung, in der ansonsten weniger geschossen als zumindest einmal (der Täter ist natürlich der böseste aller Intriganten, also Asprando) stranguliert wird. Interessanterweise drohen die Jungs immer nur mit ihren Kanonen, halten sie sich minutenlang die Waffe an die Köpfe – und prügeln sich höchstens um die Ehre, die scheinbar besseren Argumente zu haben als der Cousin des anderen Familienteils. Machohaftes Gehabe gilt viel in einer Gesellschaft, in der sich schon die Kinder als Jäger aufführen.

So betrachtet, endet die Oper (fast) wie ein typisches barockes Märchen: mit einem Fest, einem Ausgleich der widerstreitenden Interessen und dem Bekenntnis des Patriarchen, das der Weg der Gewalt der falsche war. Und – noch so ein Wunder – der unter Kinderlähmung leidende Carlo wird vom guten Adalgiso seiner Kopfschiene und seiner Beinstützen entledigt. Große Freude, das Fest folgt auf dem Fuß. Am Ende aber schließt sich nur der Kreis der telenovela, deren Neues stets das bereits Geschehene zu sein scheint: wenn der Patriarch vom Stuhl fällt und die Alte wieder zu lachen beginnt. Der König stirbt… und die sog. Barockoper lebt – bei ihrem glanzvollen, amüsanten und bewegenden Einstand beim neuen Bayreuther Festival.

Frank Piontek, 7.9.2020

Foto: © Falk von Traubenberg/Bayreuth Baroque