Bayreuth: Bayreuth Baroque: Delphine Galou

Markgräfliches Opernhaus, 4.9.2020

Bis zur renovierungsbedingten Schließung des Markgräflichen Opernhauses gab es ein von der Stadt Bayreuth veranstaltetes Festival, das sich ausschließlich der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts widmete und meist im Opernhaus stattfand. Nun hat es, mit einem anderen Veranstalter, doch von der Stadt Bayreuth relevant unterstützt, unter dem Titel „Bayreuth Baroque“ eine glanzvolle Auferstehung erlebt: zunächst mit einer seltenen Oper, dann mit einem Konzert für eine herausragende Solistin und ein exzellentes Ensemble von Kammermusikern, das dem Haus und der Epoche alle Ehre macht.

Das Ereignis heißt an Tag 2 des Festivals: Delphine Galou und die Accademia Bizantina. Was diese zwei Komponenten – eigentlich eine Formation von mehreren Solisten – an diesem Abend an Klangschönheit, interpretatorischer Intelligenz und akustischer Feinsinnigkeit am Stück des Abends produziert, ist schier entzückend. Das macht: die „Textverständlichkeit bei gleichzeitig expressiver musikalischer Überhöhung“ (O-Ton Programmheft). Delphine Galou und das halbe Dutzend Kammermusiker, ein paar Streicher, eine Laute, eine Orgel und ein Spinett, belegen schlagend, dass der Begriff der „Alten Musik“ endgültig aus dem Vokabular der musikalischen Praxis gestrichen werden sollte. Denn unmittelbarer, frischer und packender kann der oft nur Vorschläge zur genaueren Ausführung enthaltende Notentext auch damals nicht geklungen haben. Das Programm also heißt: „La Porta del Paradiso“. Obwohl es mit Stücken beginnt, die der Karwoche gewidmet wurden, und obwohl nicht weniger als zwei der fünf reinen Instrumentalstücke in der Trauertonart g-Moll stehen, kann von Trübsal nicht gesprochen werden. Eher betont die Alt-Sängerin – nicht allein durch ihre Stimmlage, auch durch ihr spezielles Timbre -, dass die Nacht der Trauer durchglüht sein kann von einer inneren Anteilnahme und Com-Passio, die es auch für den Hörer unmöglich macht, sich zu distanzieren. Galous dunkle, nicht allzu finstere, auch nicht sonderlich große Stimme (ideal für den Raum und das Repertoire), vermag das Drama letzten Endes unexaltiert und die Koloraturen dramatisch aufgeladen ins Heute zu bringen. Für ihre kontrollierte Tongebung scheint alles ideal zu sein: die Erzählung, das Mitgerissenwerden, das Kontemplative – ihr Legato hält alles, was expressiv explodieren könnte, zugleich kultiviert und ausdrucksstark zusammen: in einer „Motette“ von Alessandro Stradella wie in einer Kantate von Giuseppe Torelli, in Vivaldis Arien wie in einer Solonummer Niccoló Jommelis; die Kunst des Italieners am Stuttgarter Hof bestand nicht zuletzt daran, das Erbe der sog. Barockmusik mit Hilfe der Klangrede in die Moderne der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts zu führen. „Prigionier che fa ritorno“ aus dem Oratorium La Betulia Liberata klingt in der Kehle der Delphine Galou denn auch extrem „smooze“, und Torellis „Lumi, dolenti lumi“ glüht bei ihr in lyrischem Schmerz. Und die wahnwitzigen Koloraturen? Noblesse oblige: Sie kommen wie gewünscht, doch nicht als Produkt einer Singmaschine. Man hört: „Alte“ Musik klingt definitiv anders – sie sieht auch anders aus, da die Musiker unter der Leitung des leicht headbangenden Violinisten Alessandro Tampieri schon Giovanni Lorenz Gregoris Concerto grosso op. 2/2 mit allen Künsten der Terrassendynamik zum Klingen bringen; Rock und Romantik verbrüdern sich auch in Dario Castellos 15. Sonate concertate in stilo moderno. Ohne Eigenes funktioniert diese Musik sowieso nicht: nicht allein beim ersten Satz des Gregori-Concerto, über deren Eingangskarenz die Musiker zwangsläufig improvisieren müssen. Prachtvoll bewegt auch Dario Castellos 15. Sonate concertate in stilo moderno aus dem zweiten Sonatenbuch – das Stimmengeflecht der relativ wenigen Spieler klingt erstaunlich volltönend in den Raum, nachdem Corellis Triosonate op. 1/12 mit seinen Auszierungen und feinen dynamischen Nuancen und nachher Vivaldis g-Moll-Trio RV 85 äußerst zart gebracht wurde.

Eine Oper aber ist eine Oper ist eine Oper. Jommeli und Vivaldi schrieben ihre Oratorien in Hinsicht auf ein Publikum, das auch in der Kirche Theater hören wollte, und also schließt der Abend (vorläufig) mit der durchwegs heftig bewegten, noch einmal brillant gebrachten Agitata-Arie aus Vivaldis einzigem überlieferten Oratorium, der Juditha triumphans – die zwei Zugaben des venezianischen Meisters, der Markgraf Friedrich II. von Brandenburg-Bayreuth eine Oper gewidmet hatte, zeigen endlich den großen Komponisten am Werk, der auch auf dem Gebiet der musikdramatischen Musik Wegweisendes geleistet hat. Delphine Galou singt die zweite Zugabe, ein Encore lyrischer Art, und Nicola Porporas aus Wildheit und einem graziösen Menuett gewirkte Motette „In procella sine stella“ so bezwingend, dass man sich darauf freut, am nächsten Abend – in Porporas Carlo il Calvo – die ruhigen „Nummern“ zu hören. „Nummern“ aber hat man am Abend im Opernhaus keine gehört. „Nur einzelne, zu einem dramaturgischen Ganzen vereinigte Stücke, die, nicht zuletzt durch Delphine Galous Kunst der „Textverständlichkeit bei gleichzeitig expressiver musikalischer Überhöhung“, so klangen, als hätten sie die Italiener für ein Publikum von heute komponiert.

Nicht zuletzt diese unmittelbare Gleichzeitigkeit des nur scheinbar Ungleichzeitigen verleiht einem Festival wie dem „Bayreuth Baroque“ am ästhetisch, historisch und akustisch vollkommen richtigen Ort eine Relevanz, die verständlich macht, wieso der Begriff „Alte Musik“ zu den Akten gelegt werden sollte. Denn die Emotionen, die durch Interpetationen wie die der Accademia Bizantina und der Delphine Galou aus dem Dunkel der Archive ans Licht der Gegenwart geholt werden, sind nicht von gestern, sondern nur von heute. Die Begeisterung des Publikums war einhellig – und eindeutig.

Frank Piontek, 5.9.2020

Foto: ©Bayreuth Baroque