Bayreuth: Bayreuth Baroque: „Polifemo“, Nicola Porpora

Markgräfliches Opernhaus. 9.10.2021

Eine „Barockoper“ in einer konzertanten Aufführung? Ist das nicht furchtbar langweilig, diese Abfolge von Arien und Rezitativen, Rezitativen und Arien? Und das alles ohne die Hilfestellung, die eine einigermaßen farbige Szene und spektakuläre Regie geben könnten? So wie im letzten Jahr, als Porporas Carlo il Calvo das Festival Bayreuth Baroque eröffnete?

Ganz im Gegenteil! Wenn es sich um ein Werk von Nicola Porpora handelt und ein bekanntes Ensemble, das mit diesem Komponisten schon viel Erfahrung hat, sich des Werks annimmt, ist Kurzweiligkeit garantiert. Es stimmt schon längst nicht mehr, was Joseph Gregor – Theaterwissenschaftler und unglücklicher Librettist von Richard Strauss – 1950 in seiner Kulturgeschichte der Oper schrieb: „Schon bei den ersten Arien pflegte Porpora die Erfindung zu verlassen“. Zugegeben: ein Händel war er nicht – aber wer ist schon „wie Händel“? Dabei stand dem Neapolitaner, der weniger um seiner 50 Opern und Opernpasticci als um seiner berühmten Gesangsschule willen in die Musikgeschichte, ein gehöriges Maß an zeittypischer Inspiration zur Verfügung. Nein, „Musikdramen“ schrieb er nicht; wer Porporas Opern mit späteren Produkten des Musiktheaters vergleicht, vergleicht Äpfel mit Birnen, aber es bleibt erstaunlich, wie auch dieser seinerzeit zurecht vielbestellte Meister der Opera seria den Weg in die nächste Zukunft wies. Gelangweilt hat sich am Abend der konzertanten Premiere des Polifemo vermutlich niemand – dafür sorgten auch die ungewöhnlich vielen Accompagnato-Rezitative, die die innere und äußere Erregung der Figuren akustisch über die Rampe brachten. Typisch ist da beispielsweise das große orchesterbegleitete Rezitativ, eine Scena con Aria, in der Galatea, mit Seufzern im schweren Siciliana-Rhythmus, ihrem Schmerz um den Tod des Geliebten mit a-Capella-Vokalisen eine betörende Stimme gibt. Kein Wunder also, dass im Zuge der Wiederentdeckung der italienischen Meister der neapolitanischen Barockoper in den letzten Jahren Carlo il Calvo, La Iole, eine Semiramide riconosciuta, Germanico in Germania, Angelica und ein Orfeo-Pasticcio eingespielt wurden. War der Opernkomponist Porpora vor 20 Jahren nur ein Name und ein Beschäftigungsgegenstand für hart gesottene Musikwissenschaftler, für die die Partitur schon das „Werk“ ist, so hat er sich inzwischen auf den konzertanten und szenischen Bühnen einen interessanten Randplatz erobert. Der Abend machte klar, wieso dies gut und richtig ist – bei allen köstlichen Konventionen, denen die Gattung ihre Existenz und Formung verdankte.

Porpora brachte Polifemo 1735 in London heraus, wo ihm mit Farinelli ein Star zur Verfügung stand, der mit dem älteren Senesino leicht mithalten konnte. Die Geschichte von Porporas Oper, die im King‘s Theatre uraufgeführt wurde, ist auch eine Geschichte der Konkurrenz zu Händels Opernunternehmungen. Hört man heute beide im historischen Abstand, nehmen wir wahr, was die beiden unterschied, und doch: Obwohl Porpora bekanntermaßen auf die Dominanz der Stimme zugunsten der Kehlenfertigkeiten seiner Sänger setzte, besitzt der Polifemo – was ihn für eine konzertante Aufführung geradezu prädestiniert – eine dramatische Kraft, die uns beständig an eine innerlich sichtbare Bühne denken lässt. Erklingt auch im Einspielen der Armonia Atenea das Thema des ersten Satzes von Beethovens Pastorale im Horn, handelt es sich nicht um eine Pastorale, auch wenn Acis, der Galatea liebt, ein Hirt ist. Eigentlich müsste die Oper Acis e Galatea & Ulisse e Calipso heißen, Händels Vertonungen werden auch nach dem Liebespaar benannt, aber wie schon bei Bontempi, dessen älterer Polifemo am selben Ort als Gastspiel der Musikfestspiele Potsdam im Juni 2019 aufgeführt wurde, ist der Titelheld seltsamerweise der Zyklop, der sich an der Nymphe vergehen will. Interessanterweise hat der Librettist Paolo Antonio Rolli dem Ovidschen Dreiergespann ein Duo zur Seite gestellt, das er in einer reizvollen Mythensynthese der Odyssee entnahm: Ulisse und Calipso. Hier ist es der göttliche Betrüger, der ins Spiel eingreift, den Zyklopen blendet – und sich am Ende, ganz schuldlos gebend, zu einem Liebesgespann mit der verliebten Inselgöttin Calipso vereinigt. Ansonsten läuft alles nach dem Plan des römischen Dichters ab: Acis wird erschlagen, aus dessen Blut wird der Fluss Akis – aber bei Rolli / Porpora darf er höchstpersönlich als Gott „seines“ Gewässers wiederauferstehen und sich zum lieto fine mit der Geliebten im festlichen Finale vereinigen.

Porpora hat, dafür war und ist er bekannt, nicht allein den Arientexten ein musikalisches Gewand angeschneidert, das die Texte ernstnimmt. Ohne gleich von „barocker Klangrede“ zu sprechen, nimmt man die spezifischen Affekte wahr, die in und zwischen den Worten und Figuren stecken. Wir hören die langen Linien, wenn Calipso im Duett mit Galatea die endlos scheinenden „Martern“ der Liebe besingt, die sie erwarten werden, während sich die Stimmen so zärtlich umschlingen wie in den zauberhaften Duetten Acis‘ und Galateas (Akt I endet effektvoll mit einer heftig bewegten Arie Galateas, Akt II nicht weniger effektvoll mit ihrem extrem lyrischen Liebesduett). Koloraturen sind bei Porpora Ausdrucks- und Ausdeutungsmittel, keine bloßen Ornamente – vorausgesetzt, eine Julia Lezhneva (Galatea) singt bezaubernde Vokalisen und Solokadenzen, wenn sie, verziert mit entzückenden kleinen Portamenti, die sinnbildliche verliebte Taube in einer der Gleichnisarien, die zugleich eine Aria di bravura ist, luftleicht fliegen lässt. Über den empfindsam seufzenden und pathetisch leidenden Acis, der schon dann zu sterben meint, wenn er ein paar Minuten auf sein geliebtes Objekt warten muss, lässt sich sagen, dass Yuriv Mynenko mit seinem dahinströmenden Falsett ein Ideal von Opernliebhaber ist. Nicht allein die unendlich zärtliche, sich subtil erotisch wiegende Liebesarie mit ihren sinnlichen Triolen – Dolci, fresche aurette grate – und die berühmte Arie Alta Giove, die den Saal in die schönste Stimmung taucht, ist so beifallprovozierend wie Julia Lezhnevas Koloraturfeuerwerke: Denn sie wissen, was sie da singen – und der Besucher, ins Bühnenbild schauend, merkt plötzlich unwillkürlich, dass die Länge und das Pathos mancher Arie der Tiefe des zeremoniellen Bühnenraums und symmetrischen Logenhauses entspricht. Wenn die Aufführung einer Oper von 1735 totalen Sinn macht, dann in diesem besonderen und besonders gut erhalten Raum von 1748.

Auch die andere und die Gegenwelt wurde mit besonderen musikalischen Mitteln gezeichnet: Der leicht komische Polifemo lässt den Ätna grollen, sein Instrument ist das Fagott, nicht die Viola, doch schenkte auch ihm der Komponist ein paar empfindsame Töne. Pavel Kudinov könnte, der Abend macht das klar, auch einen sehr vitalen Don Giovanni spielen und singen. Ulisse aber ist der Held, der auch einmal mit Pauken und Trompeten agiert (so wie Acis, wenn er sich in einer wahren Prachtarie bis zum tiefsten Bariton-Ton, in der die Vorfreude auf den Liebesgenuss durch die königlichen Instrumente buchstäblich heroisch geadelt wird, der Liebe Galateas sicher ist). Max Emanuel Cencic ist der zweite Counter an diesem Abend, der seinen weichen Sopran und seine brillanten Koloraturen für den beherzten Abenteurer und schließlich den verliebten Galan der schönen Inselherrin einsetzt. Auch seine Musik ist eindeutig und reizvoll malend: beschreibt er den Blick Calipsos, der wie Amors Pfeil in sein Herz fuhr, hören wir aufreizende Vorschläge und Dissonanzen. Wer immer noch behauptet, dass die Komponisten der „Barockopern“ irgendeine Musik zu beliebigen Texten schrieben, die ihnen herzlich egal waren, muss sich nur einmal die Arien des Polifemo anhören…

Sonja Runje heißt Calipso, die Mezzo-Tochter des Ozeans, deren Arie Il gioir qualor stürmisch und wahrhaft freudvoll in den Saal fährt. Ihr zur Seite steht Rinnat Moriah als Nerea, die mit ihrem passenderweise girrenden Sopran, ihrer geläufigen Gurgel (wie Mozart gesagt hätte) und ihrer Arie Una beltà che sa das Logenhaus des Bayreuther Opernhauses rockt: wie alle ihre Partner, zu denen die Armonia Atenea und, zu Beginn und ganz am Schluss, der kleine Chor des Bayreuth Baroque Festival unter der Leitung von George Petrou fundamental gehören. Petrou bevorzugt schnelle Tempi, manchmal mit einer ungeheuren Rasanz, aber kein Gramm an Leidenschaft geht in den lyrischen Arien und Rezitativen und Duetten und Accompagnati verloren: von der Französischen Ouvertüre mit ihren feinen Holzbläsern über das bezwingende Warten-auf-die-Geliebte-Duett von Oboe und Acis bis zum glücklich jubilierenden Schlusschor, der Amors Sieg strahlend verkündet.

Also: Ein Opernfest – auch ohne Szene.<(p>

Frank Piontek, 10.9.2021

Foto: ©Andreas Harbach