Bayreuth: „Flavio“, Georg Friedrich Händel

Eine der bekanntesten Karikaturen des 18. Jahrhunderts, die Kastraten bei der Arbeit zeigen, porträtiert die berühmten Sänger Senesino, die Cuzzoni und Signor Berenstadt. Das Blatt ist auch im Programmbuch des Festivals abgebildet; es illustriert den Teil, der Händels „Flavio“ gewidmet ist – weil es eine Szene aus „Flavio“ festhält.

© Falk von Traubenberg

In Max Emanuel Cencics Neuinszenierung des Dramma per Musica geht es gleichfalls komisch zu – und tragisch. Auch deshalb war die Eröffnungsproduktion des „Bayreuth Baroque“ 2023 im ausverkauften Haus ein immenser Erfolg: weil sich, wie im sog. richtigen Leben, Komik und Trauer die Waage halten, wie’s schon in der venezianisch geprägten Opera seria der Händel-Zeit die Regel war. Es ist zwar weniger die Musik als die Dramaturgie und das Libretto Nicola Hayms, die für das chiaroscuro, das Hell-Dunkel einer Handlung sorgen, die auf den ersten Blick wie ein schablonenhaftes Lehrstück aus der Librettofabrik eines x-beliebigen Opernbuchautors des 18. Jahrhunderts daherkommt. Doch weiß man nie, ob sich in den – von HEUTE ausgesehen – schablonenhaften Handlungen und Personenkonstellationen nicht doch mehr verbirgt als die Variante einer Variante längst erprobter Opernnormen. Mag sein, dass der Versuch des Regisseurs, der – wie schafft er das bloß? – gleichzeitig künstlerischer Leiter und Sänger beim Festival ist, die fantastisch zugeschnittene Handlung um den Langobardenkönig Flavius Cunicpertus in Bezug auf die englische Königs- und Herrschaftsgeschichte des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zu dechiffrieren – mag sein, dass dieser Versuch, die Machenschaften am langobardischen Hof mit denen bei den Stuarts und ihren Gegnern zu identifizieren, vielleicht überpointiert erscheint. Am Ende ist es unwesentlich, welche politischen Gründe Hayms Libretto zu Grunde liegen – denn die Inszenierung wirkt durch ihre Bilderpracht, ihren Witz, ihre Sensibilität gegenüber den Schicksalen der tragisch Liebenden auch ohne jegliches Hintergrundwissen. Nur gab der Verweis auf die Epoche des Hochbarock dem Regisseur wie dem Ausstattungsteam (dem Bühnenbildner Helmut Stürmer, der Kostümgestalterin Corina Grămoşteanu, nicht zuletzt dem Lichtdesigner Romain de Lagarde) die Möglichkeit, im Ambiente der Stuart-Zeit zu schwelgen. So gesehen, ist die Produktion – wie immer beim Bayreuth Baroque – schon für die Unmusikalischen unter den Musikfreunden eine Pracht. Dass Letztere im Parkett und in den Logen des Markgräflichen Opernhauses sitzen, ist jedoch eher unwahrscheinlich; bei einer Länge von vier Stunden lockt eine Händel-Oper in der Regel nur jene glücklichen Opern-Aficionados an, die der herrlichen Gattung „Barockoper“ verfallen sind.

© Clemens Manser

Denn Opern, die 2023 genau 300 Jahre auf dem Buckel haben, sind nicht per se von gestern. Es ist immer wieder erstaunlich, in den ältesten Werken des Genres „Oper“ Aktuelleres, Bedrängenderes, Rührenderes zu bemerken als in manch Werk des 19. und 20. Jahrhunderts. Natürlich gehorchen die Aktionen, in die die Librettisten ihre Figuren gestellt haben, den sozialen Normen eines Zeitalters, das von denen der westlichen Moderne der Gegenwart denkbar weit entfernt sind. Und doch offenbart sich in den Affekten, die durch eben jene Normen provoziert und gelenkt werden, noch unsere eigene Gefühlswelt. Sie ist reduzierbar auf die einfachen Leidenschaften namens Liebe, Hass, Eifersucht, Zuneigung, Großmut, Trauer und Freude. Innerhalb dieses gewaltigen Rahmens zeigt uns die Oper, zuerst transportiert durch die Musik, wie heutig das Alles ist; Einwände gegenüber dem angeblich Abgelebten einer im frühen 18. Jahrhundert uraufgeführten Oper lassen zudem die Einsicht in ein einfaches Gesetz vermissen: Theater kann nur von heute sein. Es gibt, so gesehen, kein historisches Theater, das in diesem Moment live auf die Bühne kommt. Das Publikum kapiert‘s, erfreut sich an den lyrischen und dramatischen Arien, den Liebesduetten und den Rachemonologen – und klatscht am Ende den Sängern und dem Regieteam vehement zu. Chapeau – mit dem „Flavio“ gelang dem Bayreuth Baroque wieder ein Coup.

© Clemens Manser

Denn „Flavio“ – das war zu beweisen – gehört trotz seiner nicht besonders intensiven Karriere auf den Bühnen der Welt zu den Meisterwerken Händels (was nicht verwundert, da ein Meister ab einem bestimmten Zeitpunkt seines Schaffens kaum etwas anderes als Meisterwerke produzieren kann, was selbst für „Nebenwerke“ gilt). „Flavio“: das ist eine Mischung aus einer dreiviertel erfundenen Langobarden-Story und jenem Ehrkonflikt, der in Pierre Corneilles „Cid“ Weltliteratur wurde. Ein nicht besonders moralischer, ja libertinärer König verliebt sich in eine Frau (Teodata), die wiederum einen Anderen liebt; ein junger Mann (Guido) liebt, was auf Gegenseitigkeit basiert, eine junge Frau (Emilia), tötet aus Ehrgründen den Vater seiner Geliebten (Lotario), weil der den Vater jener Frau (Teodata) ohrfeigte, die in einen Mann (Vitige) verliebt ist, der sich, weil der König (Flavio) sie liebt, nicht öffemtlich zu ihr bekennt – bis das Lieto fine, trotz auf der Bühne stattgefundenem Mord, am Ende alles ins Reine setzt. Da ist viel Platz für zutiefst bewegende Schmerzensarien, balsamische Duette und hasserfüllte Furioso-Arien, auch für einen unbewussten Vorverweis auf den „Tristan“ und dessen Erledigung eines höfischen Ehrenkodexes. In einem der rührendsten Momente des Abends, in dem die Tränen nur so fließen, fordert der Vatermörder seine Geliebte auf, ihn zu töten, was natürlich nicht gelingt, weil die Verfallenheit der Geschädigten denn doch zu groß ist, als dass sie sich nicht wieder in die Arme fielen. Da in diesem Augenblick Julia Lezhneva und Max Emanuel Cencic auf der Bühne stehen, genauer: liegen, muss gar nicht erst nach der historischen Bindung der Oper gefragt werden. Die Szene spricht für sich – und reißt das Publikum emotional mit.

Hier die Tragik – dort die Komik. Wenn Flavio mit der matronenhaften Königin das öffentliche Beilager ausführen und mit der ungeliebten Frau einen Thronfolger zeugen muss, lässt er sich gleichzeitig von zwei barbusigen Hofdamen aufgeilen (die ihm später, zusammen mit Teodata, bei einem Sex-Quartett noch gute Dienste leisten werden). Die Szene ist grotesk und geschmacklos – aber kalkuliert. Wenn sich die Königin nach vollzogenem Goldenem Schuss traurig mit ihrem geliebten Hofzwerg zurückzieht, wird das Public Fucking dort eingerückt, wo es hingehört: in den Bereich der höfischen Brutalität. Es sind immer wieder diese Brüche, die aus dem Abend szenisch ein Ganzes machen – akzentuiert von den wunderbaren, vom Haushofmeister elegant dirigierten Verwandlungen des Raum, einer Zusammenstellung von sechs Paneelen; dass Correggios „Io“, die vom Wolkengott Jupiter beglückte Menschenfrau zeigend, das erste der beiden Gemälde ist, das wir sehen, ist ja kein Zufall. Wir sehen immer wieder auf Genrebilder von 1700, Billard, Spielen und Trinken, schönste Hofkostüme bereichern das Bild. Eine Hofdame (Filippa Kaye, keine Opernsängerin) singt, begleitet von einem Lautenisten, eine Einlegearie: die Folie d‘Espagne, ein Gast aus Frankreich, Ugone züchtigt seine Tochter, der Hass wird in giftgrünes Licht getaucht, während sich das Opfer Emilia mitten drin befindet, zauberhafte Außen- (der Raum verwandelt sich schnell) und burleske Innenszenen (das Bett hat gleich zweimal zu wackeln: auch, zum Ausgleich, wenn sich die Queen mit ihrem Zwerg vergnügt) überraschen die „care pupille“. Eine neue Mätresse wird scheel angestarrt, ein Spieltisch mit Zwerg, Königin und Priester macht das Gemälde vollkommen. Ein Mann wird getötet, es ist lustig, wenn man ihn kaum aufheben kann – und es ist erschütternd, die hinterbliebene Tochter in den Armen eines leicht verzweifelten Dieners leiden zu sehen. Teodata und Vitige vögeln sich durch die Ouvertüre, die Verwirrung der Gefühle wird später die Dame in Flavios Bett treiben. Der Rest ist Hoffnung: „Glücklich sei ein jeder heute“, singen sie alle, aber das Dur der Musik wird vom Moll der zerstrittenen Paare konterkariert, die zu viel erlebt haben, als dass sie nicht ihre Wunden, die Untreue, den Mord, das Misstrauen, weiter durchs Leben tragen würden.  Man sieht: Unter den Perücken herrscht das Chaos. So korrigiert die Inszenierung die Normalform des alle Widersprüche glattbügelnden Schlusschors. Das ist nicht originell, aber richtig, wenn man darauf verzichtet, im absolutistischen Wunschdenken des Barockzeitalters noch heute die Norm zu akzeptieren.

(c) Clemens Manser

Händels Musik widerspricht dem nicht; gelegentliche rohe Akzente gehen auf das Konto des Komponisten. Das Orchester Concerto Köln spielt unter Benjamin Bayl einen leichtgewichtigen wie drängenden, genau akzentuierten wie entspannten Händel heraus. Zwischendrein gepackt: Händelsche Orchester-Ent‘acts, die so geschickt aufs Instrumentarium abgestimmt wurden, dass man sie für integrale Bestandteile der Partitur halten könnte, deren Werkcharakter in der Händel-Ära eh latent hypothetisch ist. Julia Lezhneva ist wieder die Koloraturen-Königin des Abends, die ihre Variationen als Kadenzen in die Arien einstreut. Drei Counters beleben den Abend in hohen Tönen: der butterweiche Flavio des Rémy-Brès-Feuillet, der schärfer artikulierende Vitige des Yuriy Mynenko, der Giulio des Max Emanuel Cencic. Monika Jägerová verfügt über einen betörenden Alt, mit dem sie die schillernde Partie der Teodata interessierend ausfüllt. Schließlich die beiden exzellent besetzten Streithähne Ugone und Lotario: Fabio Trümpy und Sreten Manojlovic; Händel gab besonders Letzterem die Gelegenheit zu bassbaritonalen Aufruhrsequenzen.

„Flavio“, eine Karikatur? Nein, ein Gesamtkunstwerk, in dem sich tiefe Emotionalität, hintersinniger Humor, lyrischste Schönstrecken und dramatisch gut motivierte Handlungen im wahrlich bildschönen Spiel- und Aufführungsraum ideal verschränken: dank Cencic, „seinen“ Musikern und Sängern und dem Genie der Vermittlung eines spannenden Werks.

Also: Wenn es „Bayreuth Baroque“ nicht gäbe, müsste man es erfinden.

Frank Piontek, 8. September 2023


Flavio
Dramma per musica von Georg Friedrich Händel

Bayreuth Baroque im Markgräflichen Opernhaus

Premiere: 7. September 2023

Regie: Max Emanuel Cencic
Musikalische Leitung: Benjamin Bayl
Concerto Köln