Wahnfried, 16.8.2021
Es strömt…
Eine Fülle von Liszt-Liedern einmal live zu hören, ist ein Glück. Michael Volle und Helmut Deutsch in einem Liederabend zu erleben, ein anderes. Volle und Deutsch aber in einem Liszt-Liederabend zu hören, ist ein potenziertes Glück.
Selbst in Bayreuth, wo Liszt starb und beerdigt wurde, und wo ihm 2011 eine große Reihe von Konzerten gewidmet wurde, stehen seine Lieder allzu selten auf den Programmzetteln. Dabei finden sich unter seinen 70 Liedern (nicht gerechnet die Zweit-, Dritt- und Viertversionen, die oftmals eigene Kompositionen wurden) wahre Perlen – am Abend hören wir nicht weniger als 17 Liszt-Lieder, unterbrochen von einer reizvollen Sammlung: vier Pariser Lieder Richard Wagners, was nicht allein als Hommage an den ehemaligen Hausherren gedeutet werden muss. Zugegeben: Es gibt unter den Nebenwerken vermutlich wenige andere Kompositionen Wagners, die in früheren Jahren schlechtere Rezensionen und den Vorwurf der Banalität auf sich zogen. „More clever than inspired“, nannte sie Adrian Corleonis. Für Wagnerkritiker wie Robert Gutman waren sie „minderwertig“, ja: „Wagners Beitrag zu dieser königlichen Gattung darf wohl der schlechteste genannt werden“, wie Robert Gutman einst in seiner polemischen Wagner-Biographie schrieb. Wagner selbst, der ein strenger Kritiker seiner Frühwerke war, meinte später allerdings, und er meinte es zurecht, dass er damals „kleine Arbeiten“ geschrieben habe, „deren ich mich nicht zu schämen habe“. Wenn man nun in Attente (immerhin auf einen Text Victor Hugos) einen Ton hört, der an Gutrune erinnert, ist dies kein Zufall, denn Wagner publizierte just in dem Jahr, in dem er die Komposition der Götterdämmerung begann, drei dieser Lieder von Neuem. Für einen Wagnerfreund ist bereits die Anspielung auf die Grundbewegung der Rom-Erzählung in den Deux Grenadiers ein reizvoller Vorschein, aber auch er geht nicht in ein Konzert, um Musikgeschichte zu erforschen. Es ist ja bereits ein Erlebnis, Wagners französischsprachige Vertonung von Heines Zwei Grenadieren zu lauschen, wenn des Sängers Stimmsitz – eben sitzt und die Dramatik dieser Ballade über den bis über den Tod hinaus reichenden Treue zum Kaiser markerschütternd in den Saal klingt, nachdem Tout n’est qu’images fugitives und Dors mon enfant auch deshalb gute Lieder sind, weil sie gut, also mit einem Ausdruck gebracht werden., der die liebevoll komponierten Sachen ernst nimmt.
Man darf sich zunächst daran erinnern, was der Liszt-Schüler und Biograph August Stradal einst schrieb: „Als der Meister noch lebte, brachten sämtliche Sänger aus der großen Sammlung seiner Lieder und Gesänge stets nur das einzige Lied: ‚Es muss ein Wunderbares sein‘ … Heute hört man ab und zu auch ‚Oh, quand je dors‘, „Die Loreley‘ und ‚Wieder möcht‘ ich dir begegnen‘. Der ganze übrige Liederschatz bleibt noch immer ungehoben und die Sänger ahnen nicht, was sie sich, zum eigenen Schaden, damit antun, dass sie der Lisztschen Lyrik in unbegreiflicher Indolenz aus dem Wege gehen.“ Wenn Volle zusammen mit Helmut Deutsch, dessen Interpretationsdelikatesse man nicht als „Begleitung“ abtun sollte, sich Liszt widmet, tönt es so warm und artikulatorisch genau heraus wie nur möglich. Volle muss nicht mehr beweisen, dass er auch in der Gattung des Liedes ein Charaktersänger ist, dem die Mittel nicht allein im opernhaften Fortissimo und dem dramatischen Aufschrei (wie in Vergiftet sind meine Lieder) zur Verfügung stehen. Emphase äußert sich bei ihm ebenso im piano, mit dem er schon die zweite Strophe des Eingangslieds, Heines Im Rhein, im schönen Strome gestaltet. Stehen im ersten Teil des schon dramaturgisch gutgemachten Programms melancholisch-fatalistische Lieder auf dem Programm (der Ausschlag reicht von Des Tages laute Stimmen schweigen bis Ein Fichtenbaum steht einsam), wird der letzte Teil des Abends von Liedern der Liebe, beginnend mit den Petrarca-Sonetten – Es muss ein Wunderbares sein fehlt glücklicherweise nicht -, zuletzt durch den „Rausschmeißer“ Die drei Zigeuner, ganz zuletzt durch Wagners schwermütigen Tannenbaum („ein Lied in livländischer Tonart“, wie er in Riga schrieb) und Liszts Du bist eine Blume gekrönt. Was immer auch Volle mit seinem zuverlässigen Mann am Wahnfried-Steinway singt: es strömt aus diesem Sänger heraus, wobei die Erinnerung an den Vogel, der heut sang (eine besonders zarte Stelle im Fliedermonolog, den er einen Tag später anstimmen wird) sich nicht allein in der zweiten, elegischen Fassung von Freudvoll und leidvoll einstellt; es war im übrigen eine gute Idee, die beiden, stark unterschiedlichen Vertonungen von 1848 und 1860, die unter einer Werkverzeichnisnummer S 280 zusammengefasst wurden, in einem Konzert hintereinander zu bringen, um die skrupulöse Arbeit Liszts an den Texten zu demonstrieren.
Empfindsam klingt ja schon das erste Petrarca-Sonett, empfindsam auch Der du von dem Himmel bist, schier sensibel die Glocken von Marling. Die Stimme sorgt, im Ausbruch wie in der Erzählung, in der sanften Geste wie in der Nachzeichnung der Verzweiflung, für eine Eleganz, die doch zutiefst betroffen anmutet und die Hörer an diesem exklusiven Abend (22 Kaufkarten…) schlichtweg bannt. Der ganze übrige Liederschatz bleibt noch immer ungehoben? Wie gut, dass Michael Volle und Helmut Deutsch die glänzende Idee hatten, nichts weniger als einige Meisterwerke Franz Liszts zu bringen, die kraftvoll baritonale Stimme und den technisch nicht ganz einfach zu bedienenden Flügel in ihrer ganzen Ausdrucksvielfalt – selbst und gerade in den am Rande des Verstummens verharrenden Passagen – für die Liedperlen einzusetzen.
Frank Piontek, 17.8.2021