Steingraeber. 1.11.2021
Waren die vielen Besucher, die Steingraebers Kammermusiksaal füllten, alle um der Kunst, also der Rede und der 130 aus der Burger-Sammlung stammenden und gerade angekauften Fotos willen gekommen? Natürlich nicht, denn es war die Ankündigung, dass Nike Wagner höchstselbst kommen werde, um eine Rede über ihren Ururgroßvater zu halten. Man tut recht daran, denn bei Nike macht nicht allein der Name die Aura. Es ist ihr Witz, ihre Intelligenz, ihre für dialektische Wendungen geschärfte Prägnanz, die sie zu der aus der Familie herausragenden Intellektuellen gemacht hat, mit deren Thesen man sich, wenn man ernsthaft an Wagner und seinen Nachkommen interessiert ist, gern auseinandersetzt.
Mit Udo Schmidt-Steingraeber und seiner Familie ist sie seit langem befreundet; zwischen Bayreuth und Bonn und Wien funkt’s, soweit es die Aktivitäten des Klavierhauses betrifft, das sich stets um ihren Ahnen gekümmert hat. Die Foto-Ausstellung repräsentiert in diesem Sinn den „ganzen“ Liszt, also den Weg des reisenden Virtuosen bis hin zum Sterbejahr, in denen seine Physiognomie rein optisch kenntlich wurde.
Nike Wagner spricht über den Künstler Liszt, damit über ein Stück Familiengeschichte, denn die Art und Weise, wie man zu Zeiten Richard und Cosima Wagners, schließlich in der väterlichen Familie über den Menschen und Komponisten sprach, betrifft sowohl den Musiker wie den Verwandten Liszt. War das Verhältnis Wagners zu Liszt in den späten Bayreuther Jahren noch weitgehend ungetrübt (abgesehen davon, dass Wagner beim avantgardistischen Liszt nicht mehr mitkam), so wurde das Verhältnis zum spöttisch „Abbé“ genannten Manne nach dessen Tod alsbald tabuisiert. Dass Wieland Wagner während einer Aufführung des Elisabeth-Oratoriums in der Bayreuther Stadtkirche einschlief, ist mehr als eine Anekdote. Der feinsinnig liberale Siegfried Wagner sprach von den „Kammermusikheuchlern“, die derlei Musik goutierten, später ging man gegenüber den Werken Liszts eher wienerisch vor: Ned amal ignorieren. Liszt galt als anstößig, da katholisch und viel zu modern, gleichsam undeutsch in seinem ganzen zwischen Salon und Effekt changierenden „Gehabe“. Cosima Wagners Verhältnis zu ihrem Vater bezeichnet die Nachfahrin als ambivalent; später wich die Ambivalenz der Verdrängung, denn neben Wagner sollte es keine anderen Götter der Modernen Musik mehr geben. Vergessen die Einflüsse, mit denen sich Wagner und sein „Franz“ befruchteten. So geriet Liszt allmählich auf ein „Nebengleis der Musikgeschichte“.
Nike liebt, sagt sie, besonders den „Musicien voyageur“ in Liszt, den umher reisenden, umherschweifenden, romantischen Musiker. Auch die Gäste haben Vergnügen am Komponisten Liszt, der für sein Überleben sorgte, indem er haltbare und gerade aufgrund ihrer Vielfältigkeit den Menschen und (einsamen) Weltbürger Liszt charakterisierende Werke schrieb. Tamta Magradze, Gewinnerin des Internationalen Franz Liszt Klavierwettbewerbs, hatte schon am Abend in der Städtischen Musikschule durch ihre Interpretationen begeistert; nun spielt sie, mehr forte als pp, die Konzertetüde Waldesrauschen: im Stil der leidenschaftlichsten Emphase. So überlagern sich die Klänge und Zeiten – zum Vergnügen eines Publikums, das auf diese Weise nicht allein eine berühmte Nachfahrin, auch einige bewegende Klangmomente geschenkt bekommt.
Frank Piontek, 1.11.2021