Zwei Knallbonbons und ein Juwel
Dem dramma giocoso L`ITALIANA IN ALGERI in der Inszenierung von Davide Livermore galt die Eröffnung des Festivals und alle, die im Vorjahr seine originelle und stimmige, in der Stummfilm-Ästhetik angesiedelte Version des Ciro in Babilonia erlebt hatten, waren gespannt auf diese neue Arbeit. Auch hier werden durchgehend Videos (Design von D-Wok) eingesetzt, die sogleich zur Sinfonia auf dem Vorhang in der Art von Comics wechselnde Zeitungsausschnitte, Erdölbohranlagen, Fässer und Dollarscheine sowie Isabella und Lindoro als Ausschneidefiguren zeigen. Bei dieser eher albernen Illustrierung der Musik musste man sich besser an diese selbst halten, die unter José Ramón Encinar am Pult des Orchestra del Teatro Comunale di Bologna munter herunterschnurrte. Auch sonst sorgte der Dirigent mit flotten, in den beiden Finali straff angezogenen Tempi bis zum Schluss für orchestrale Verve. Die in Popfarben beleuchtete Bühne von Nicolas Bovey zeigte auf der rechten Seite auf einem Podest weiße Designermöbel vor einer Wand, die gedreht werden konnte und dann als Schwimmbassin, Fernsehbildschirm oder Duschkabine taugte. Gianluca Falaschis Kostüme sind reich an Ornamenten und glitzernden Strass-Steinen, Pailletten und Federschmuck, erinnern in ihrem bizarr-futuristischen Outfit auch an Sciene-Fiction-Filme. Die Regie wartet mit einer Überfülle an Gags auf, die über Gebühr strapaziert werden und die man – wie die pathetischen Stummfilmgesten – schon aus dem Ciro kannte. Schrille Ballett-Einlagen mit effeminierten Eunuchen und zwei Stewardessen, die einen Flugzeugabsturz überlebt haben, sind ebenso überflüssige Zutaten wie ein amerikanisches Touristenehepaar, das gleichfalls aus der Maschine stammt und bis zum Ende des Stückes nervend herumgeistert. Auch Isabella im rosa Hosenanzug entsteigt dem Wrack für ihren Auftritt mit "Cruda sorte". Anna Goryachova lässt einen recht schmalen, dunkel getönten und etwas verhauchten Mezzo mit herber Höhe hören, singt mit gebührender Flexibilität und feinen Verzierungen, doch fehlt es ihr an Persönlichkeit und kapriziösem Charme. Die Regie lässt sie im Revue-Kostüm mit viel goldenem Glitzerzeug oder im knappen Bikini auftreten, sich des öfteren in Kampfsportposen ergehen und seltsamerweise mit ihren beiden exzentrischen Begleiterinnen auch einige lesbische Akzente setzen. Ärgerlich ist, dass ihr Schluss-Rondò mit alten Aufnahmen der Rai und noch mehr Bildstörungen auf dem Fernsehschirm untermalt wird. Auch für Halys Arie "Le femmine d`Italia" werden diverse italienische Frauen von der Köchin über die Modekönigin bis zur Braut eingeblendet. Davide Luciano in weißer Uniform und Turban singt diese köstliche Nummer mit viel Charme und virilem Bariton. Yijie Shi gibt den Lindoro mit durschlagskräftigem Tenor, doch gequältem Klang in der Höhe und zuweilen spröder Tongebung, Mario Cassi den Taddeo, der im zerfetzten, rußgeschwärzten gelben Mantel den Trümmern des Flugzeugs entsteigt, mit buffoneskem Tonfall und schöner stimmlicher Substanz. Kompetent besetzt die Zulma mit Raffaella Lupinacci und vor allem die Elvira mit Mariangela Sicilia, deren acuti das 1. Finale mühelos dominierten. Das Ereignis der Aufführung ist Alex Esposito als Mustafà – ein kettenrauchender und zuviele Viagra-Tabletten konsumierender Macho in Bermuda-Shorts und später ornamentiertem Brokatanzug mit sinnlichem, voluminösem Bass von Energie und Autorität, eloquentem Gesang und unglaublich agilem Spiel. Einen wendigeren Bey, der mit Taddeo sogar ein kesses Tänzchen hinlegt, gab es wohl nie. Und selbst die ihm von der Regie verordneten Trottel-Gesten wirken in seiner Darstellung noch attraktiv. Am Ende muss er mit Taddeo in Schweinerüssel-Masken eine Sahnetorte in Form des italienischen Stiefels schmatzen, während Isabella und Lindoro auf einer Strickleiter in das nächste Flugzeug steigen. (16. 8.)
Das Hauptinteresse der Melomanen galt in diesem Jahr der Neuproduktion des GUILLAUME TELL in der französischen Originalfassung, die kurz zuvor auch bei den Rossini-Festspielen in Bad Wildbad zu sehen war, was interessante Vergleiche ermöglichte. Die besondere Attraktion in Pesaro war der Auftritt von Juan Diego Flórez in der gefürchteten Partie des Arnold, die er – nach einer "Generalprobe" in Lima – erstmals der europäischen Öffentlichkeit präsentierte. In grüner, mit goldenen Tressen geschmückter Uniform (Bühne und Kostüme: Paul Brown) war er wie gewohnt ein optischer Blickfang, wirkte aber am Abend des 17. 8. im Spiel sehr verhalten und wenig präsent. Stimmlich ließ er im ersten Duett mit Tell zunächst sicher platzierte Spitzentöne und im Terzett mit Tell und Walter auch ganz neue Stimmfarben hören, doch im Duett mit Mathilde klang sein Tenor unterbelichtet und in den dramatischen Passagen zunehmend übertönt. Auch die mit Spannung erwartete große Szene im letzten Akt gelang ihm nicht zufriedenstellend, zu gequält wirkten die Spitzentöne, zu überfordert und kraftlos sein Vortrag. Nicht ideal die Besetzung der Titelrolle mit Nicola Alaimo, dessen Stimme im Charakter zu basslastig war und dessen Erscheinung zu großväterlich-gemütlich wirkte. Einige durchschlagende Spitzentöne waren durchaus imposant, auch die im Quartett des 3. Aktes kantabel strömende Stimme überzeugte, aber insgesamt fehlten seiner Interpretation baritonaler Kern und energischer Nachdruck. Die Partie seines Sohnes Jemmy wurde durch die Einfügung einer großen Arie im 3. Akt ("Ah, que ton âme se rassure") stark aufgewertet und Amanda Forsythe mit hellem, klarem Sopran sang das anspruchsvolle Stück höchst achtbar. Mit Mathilde brillierte sie auch im 3. Finale mit kraftvollen Spitzentönen. Marina Rebeka sang die habsburgische Prinzessin in eleganter weißer Robe solide, doch zuweilen etwas soubrettig im Klang, mit greller Höhe und seltsam gejodelten Koloraturen. Im dramatischen 3. Finale, wo auch Substanz in der Tiefe gefordert ist, offenbarte sie ganz besonders ihre Schwachstellen. Die Partie braucht größere lyrische Valeurs und reichere Schattierungen. Auch Veronica Simeoni blieb mit ihrem strengen Mezzo Tells Frau Hedwige in deren Terzett mit Mathilde und Jemmy sowie der Prière Grandeur und Pathos schuldig, zumal die Regie die Figuren hier am Küchentisch beim Kaffeetrinken zeigt. Es sind zu kleine Bilder für solch erhabene Musik. Auch sonst irritiert Graham Vick mit seiner Inszenierung und gibt viele Rätsel auf. Ein weißer Raum mit unterkühlter, steriler Atmosphäre lässt an ein Museum der Moderne denken; Filmkameras und Scheinwerfer verweisen eher auf ein Aufnahmestudio. Vielleicht wird im Museum auch ein Heimatfilm gedreht, denn der einleitende Gesang des Fischers (der Tenor Celso Albelo nicht ganz frei in der Stimmgebung und mit unvermittelt herausgestoßenen, aus der Linie herausfallenden Spitzentönen) wird mit einem aufgehängten Kahn und dahinter platzierten Tafeln mit Landschaftsmalerei illustriert und gefilmt. Während die unterdrückte Schweizer Dorfbevölkerung den Fußboden putzen muss, ergeht sich in einem Kabinett zur Linken die herrschende Gesellschaft in luxuriösen Vergnügungen. Vick prangert die Habsburger in allen nur erdenklichen dekadenten Erscheinungsformen an, was sich zuweilen wie eine Parodie österreichischer Operettenklischees ausnimmt. Die eleganten Roben in Schwarz und glitzerndem Gold sind nun im Fin de siècle angesiedelt; prachtvolle Lüster und die Fahne mit den Doppeladler werden bald von geschlachteten Pferden, blutverschmierten Wänden und zerschlagenen Vitrinen kontrastiert. Gesler im Smoking (Luca Tittoto mit präsentem Bassbariton) verhöhnt das einfache Volk und inszeniert den Schuss wie eine Zirkusnummer – auf Jemmys Kopf zerknallt der Apfel unter betäubendem Knall wie ein Feuerwerkskörper. Bizarr sind die Balletteinlagen von Ron Howell in ihrer Mischung aus Schuhplattler, Hampelmann und Huckepack in folkloristischen Trachten sowie spastischen Zuckungen, die dem modernen Tanztheater entlehnt sind. Und hatte schon die geballe Faust in Rot und Weiß wie ein kommunistischer Kampfesgruß auf dem Vorhang die Ahnung aufkommen lassen, dass die Lösung des Konfliktes wohl in diesem politischen System gesehen wird, bestätigte sich das zunehmend. Da werden rote Fahnen geschwenkt, rote Halstücher umgebunden, rote Armbinden angelegt. Und im Finale fährt gar eine mächtige rote Treppe aus der Decke herab, auf der alle dem Kommunismus entgegensteigen können. Jemmy als Vertreter der Jugend geht voran, vom Orchestra del Teatro Comunale di Bolgna unter Leitung von Michele Mariotti mit gewaltigen Klangwogen getragen. Schon mit der Ouverture hatte der Klangkörper seine Tugenden gezeigt – das herrlich ausgekostete elegische Streicher-Motiv, die dramatische aufgewühlte nachfolgende Passage, das bekannte rhythmisch federnde Motiv. Mit seinen zunehmend breiten Zeitmaßen (vor allem im 2. Akt) konnte der Dirigent die Spannung aber nicht durchgängig halten. Der Coro des Theaters (Andrea Faidutti) beeindruckte mit klangvollem Gesang von oft überwältigender dramatischer Wucht.
Zu einem beglückenden Erlebnis wurde die Wiederaufnahme von Jean-Pierre Ponnelles Inszenierung von L`OCCASIONE FA IL LADRO aus dem Jahre 1987, die noch immer so frisch und witzig daherkommt, was auch der Einstudierung von Sonja Frisell zu danken war. Der Diener Martino tritt durch den Zuschauerraum auf und lässt auf der Bühne aus einer riesigen Reisetasche (die später zum fatalen Objekt der Vertauschung wird) die Personen des Spiels mit ihren Klavierauszügen auftreten. Zur Temporale (bekannt aus dem Barbiere) erscheinen die Bühnenarbeiter, dekorieren die Szene mit dem Mobiliar des Gasthofes und lassen zu den Donnerschlägen der Musik die bemalten Stoffwände erzittern. Alle Verwandlungen geschehen in Windeseile bei offenem Vorhang und am Ende werden alle Dekorationen in der Reisetasche entsorgt, in der sogar Martino verschwindet. Eine glänzende Aufgabe für den spielfreudigen und lautmalerisch singenden Paolo Bordogna mit handfestem, voluminösem Bass. Seinen Herrn Don Parmenione gibt Roberto De Candia mit körnigem Bariton, den Conte Alberto Enea Scala mit kraftvollem, aber nicht sehr elegant geführtem Tenor. Gelegentlich nahm seine Stimme einen dröhnenden und in der exponierten Höhe plärrenden Klang an. Seine Verlobte, Berenice, war bei Elena Tsallagova mit kultiviertem, dunkel gefärbtem Sopran in bester Kehle. Die flexible Stimme bewältigte auch die virtuose Arie vor dem Finale (" Voi la sposa pretendete") glanzvoll – sowohl in der Auffächerung der turbulenten Emozionen als auch in ihrer Bravour mit staccati und vielerlei Zierwerk. Noch dunkler und gleichfalls sehr reizvoll timbriert ist die Stimme von Viktoria Yarovaya als Zimmermädchen Ernestina in schwarzem Kleid und weißer Schürze. Die Besetzung ergänzte Giorgio Misseri solide als Berenices Onkel Don Eusebio. Federnd und delikat servierte Yiu-Chen Lin am Pult des Orchestra Sinfonica G. Rossini die reizende Musik dieser Burletta per musica und ließ die Ensembles in atemberaubendem Tempo musizieren. Aufführungen von solchem Zauber (Ausstattung ebenfalls von Ponnelle) entstehen heute leider nicht mehr und sind daher doppelt kostbar und willkommen. Neben den langen Werken im diesjährigen Festivalprogramm war dieser Abend des 15. 9. ein erfrischendes Sorbetto.
Zuvor hatte es am Nachmittag in der Reihe Concerti di Belcanto im Auditorium Pedrotti einen Auftritt des Tenors MICHAEL SPYRES gegeben, der im Vorjahr im Ciro in Pesaro reüssiert hatte. Am Flügel begleitet von Giovanni Fabri, der kurzfristig für die erkrankte Pianistin Sabrina Avantario eingesprungen war, servierte der an der Adria sehr beliebte Sänger ein abwechslungsreiches und anspruchsvolles Programm, das er mit zwei Arie antiche von Alessandro Stradella eröffnete. Über solche tenore di grazia-Nummern ist der Sänger eigentlich schon hinaus, doch dienen diese vielen Interpreten zum Aufwärmen der Stimme. Sofort fiel deren reiche Substanz in der Mittellage, eine Trumpfkarte von Spyres, auf. Auch der lyrisch-getragene, schmerzliche Ausdruck sowie die effektvoll schattierten Kontraste in der Dynamik imponierten, weniger einige nicht sicher platzierte Spitzentöne. Willkommen war der Vortrag von Antigonos Arie "Tu m`involasti un regno" aus Antonio Maria Mazzonis unbekannter gleichnamiger Oper – ein Stück von heroischem Charakter, wo stupende Töne in der Extremtiefe mit solchen in der exponierten (etwas grell klingenden) Höhe kontrastierten und die Energie in den Koloraturskalen enormen Effekt machten. Ein Ruhepunkt in der Programmfolge war Ferrandos "Un`aura" aus Mozarts Così fan tutte, das freilich nicht verzärtelt, sondern mit jungmännlichem Nachdruck gesungen wurde. Man kann sich die Arie träumerischer, schwebender vorstellen als in dieser Interpretation, doch hatte auch diese ihren Reiz. Es folgte die erste Nummer von Rossini, die Arie des Dorvil aus der Scala di seta, klangvoll und kantabel gesungen, wenn einige obere Noten auch hier gestresst klangen. Aber der schnelle virtuose Schlussteil imponierte in seiner Emphase und den hier sicheren acuti. Hinreißend danach Otellos Kavatine "Ah! sì per voi già sento" in ihrem heldischen Aplomb, der herrlich strömenden Klangfülle und dem Schlussteil voller Verve und Bravour. Nicht zuletzt war das Programm auch ein Zeugnis der Vielseitigkeit und Kompetenz des Tenors in verschiedenen Fächern und Sprachen. Das zeigte die folgende Arie des Georges, "Viens, gentille dame", aus Boieldieus La dame blanche, die stilistisch sehr idiomatisch mit schwärmerisch-zärtlichem Tonfall, euphorischem Mittelteil und grandiosen Spitzentönen erklang. Die Szene des Duca aus Verdis Rigoletto ("Ella mi fu rapita… Parmi veder le lagrime") demonstrierte zum Schluss die Möglichkeiten des Sängers auch in diesem Fach. Hier hörte man grimmigen Zorn im Rezitativ, zärtliches Verlangen in der Arie, deren letzten Ton noch ein Triller schmückte, und die Cabaletta mit einer interessanten Verzierungsvariante im Dacapo. Den enthusiastischen Jubel des Publikums belohnte der Sänger mit einer neapolitanischen Kanzone von generöser stimmlicher Pracht.
Bernd Hoppe, 26.8.13