Bochum/Ruhrtriennale: „I Want Absolute Beauty“, PJ Harvey / „The Faggotts and Their Friends Between Revolutions“, Philip Venables

Mit einem wahren Premieren-Reigen startete die diesjährige Ruhrtriennale unter der neuen Intendanz von Ivo van Hove. Vor allem die beiden Musiktheater-Produktionen in der Bochumer Jahrhunderthalle deuteten die Zielrichtung an, die der 65-jährige Belgier für die drei Spielzeiten seiner Amtszeit anvisiert. Nämlich die Abkehr vom intellektuellen Anspruch seiner Vorgängerin Barbara Frey und eine größere Einbindung von Rock- und Pop-Musik, um weitere und jüngere Publikumsschichten gewinnen zu können. Setzte die Schweizerin starke feministische Akzente, verspricht Ivo van Hove ein „queeres“ Angebot mit einem Maximum an Toleranz für alle Lebensformen.

Das drückt sich vordergründig in der rosaroten Einfärbung des „Wunderlands“ aus, das als zentrale Begegnungsstätte den gastronomischen Bereich abdeckt. Der schmiegt sich zwar enger an die Jahrhunderthalle an als die naturverbundene „Kantine“ im Pappelwald, den Jürgen Flimm 2006 angelegt hat, wirkt aber erheblich kleinräumiger. Zumal der bis dahin vielfach mit Installationen und diversen Aktionen belebte Vorplatz der Halle völlig unbespielt bleibt.


„I Want Absolute Beauty“, PJ Harvey / Ivo van Hove

Was die musikalische Öffnung angeht, gelang van Hove mit der Eröffnungspremiere I want absolute beauty allerdings ein beeindruckender Coup. Eine gattungsmäßig kaum definierbare Produktion, angesiedelt zwischen Musical, Song-Konzert, Tanz und Schauspiel. 26 Songs der britischen Songwriterin PJ Harvey bündelte van Hove zu einem Zyklus, der schemenhaft das schillernde Leben einer Frau von traumatischen Kindheitserfahrungen bis zum Selbstbewusstsein einer selbstbewussten Persönlichkeit umreißt. Biografische Bezüge zur Lebensgeschichte PJ Harveys werden zwar angedeutet, stehen aber nicht im Zentrum. Jedoch bilden die wichtigsten Lebensstationen der Sängerin, Dorset, London und New York, den äußeren Handlungsrahmen.

© Jan Versweyveld

In ihrer Kindheit in der Grafschaft Dorset vermischen sich Erinnerungen an die malerische Meereslandschaft mit frühen Gewalt- und Kriegserfahrungen, in London folgt der Abstieg in die Prostitution und in New York gelingt die persönliche Befreiung. Im vierten Teil kehrt sie an ihren Geburtsort zurück, bestärkt mit Hoffnung und einem Selbstbewusstsein, das zugleich als aufmunternder Appell verstanden werden soll.

Auf der weitgehend leeren, mit Torf bedeckten, lediglich mit zwei Baum-Attrappen und der vierköpfigen Band bestückten Bühne sorgt ein breites Videoband für die eindringlichsten optischen Eindrücke. Die Darsteller in Großaufnahme, Landschafts- und Genrebilder und nicht zuletzt eine Video-Sequenz mit Isabelle Huppert als Großmutter lassen die Mitwirkenden auf der riesigen Spielfläche zwar sehr klein erscheinen. Das ist jedoch kein allzu großes Problem, denn dort zieht die Oscar-nominierte Schauspielerin Sandra Hüller als ultimativer Star des Abends das Publikum in seinen Bann. Sandra Hüller ist zwar auf der Ruhrtriennale und im benachbarten Bochumer Schauspielhaus schon des Öfteren aufgetreten und auch als Sängerin ist sie nicht unerfahren, nicht nur als Teeny in einer Rockband, sondern auch mit kleineren Gesangseinlagen in diversen Theaterproduktionen. Aber 26 Songs nahezu pausenlos mit ungebrochener Intensität liefern zu können, verdient besondere Anerkennung. Zumal es die Gesänge PJ Harveys in sich haben. Abverlangt wird der Stimme eine große Tessitura von tiefen bis sehr hohen Tönen. Außerdem erfordern die meist introvertiert und melancholisch gefärbten Gesänge eine Vielfalt an subtilen Ausdrucksnuancen und der mitunter abrupte Wechsel in aggressive Stimmungslagen ein beachtliches Maß an Flexibilität. Auch wenn das Timbre Sandra Hüllers dem PJ Harveys ähnlich ist, setzt sie eigene Akzente. Weniger zerbrechlich wirkt ihr Gesang, dafür durchweg optimistischer. Der titelgebende Wunsch „I want absolute beauty“ bleibt allerdings Illusion, wodurch dem Stück der letzte Zahn fadenscheiniger Idylle gezogen wird.

© Jan Versweyveld

Zunächst hält sich Sandra Hüller darstellerisch zurück. Die Tänzerinnen und Tänzer des Marseiller Choreografen-Trios „(La)Horde“ umrahmen die Gesänge, die agile Sarah Abicht ist als jugendliches Alter Ego stets an ihrer Seite. Kraftvoll werden die Kriegs- und Gewaltszenen ausgeführt, sensibel die introvertierten Teile. Im Laufe des 80-minütigen Stücks wird Sandra Hüller immer stärker in das Tanz-Geschehen eingebunden, gipfelnd in Einlagen, die an Revue-Nummern erinnern. Eindrucksvoll in jeder Hinsicht.


I Want Absolute Beauty
mit Musik von PJ Harvey

Jahrhunderthalle Bochum

Uraufführung und Premiere am 16. August 2024

Regie: Ivo van Hove


„The Faggotts and Their Friends Between Revolutions“, Philip Venables / Ted Huffman

Am nächsten Tag stand mit The Faggotts and Their Friends Between Revolutions die Deutsche Erstaufführung einer Kreation auf dem Programm, die wie ein quirliger Befreiungsakt der „diversen Community“ anmutet. „The Faggotts“, eigentlich ein abwertender Begriff für „schwul“, ist in Larry Mitchels gleichnamigem bahnbrechendem Roman aus den 70er-Jahren noch freundlich gemeint. Und die szenische Umsetzung durch den Regisseur Ted Huffman und den Komponisten Philip Venables verstärkt die als Liebeserklärung geschmückte Botschaft an die „queere“ Gemeinschaft und den Rest der Gesellschaft. Dafür haben die beiden eine international bunte Truppe exzellenter Musiker und Tänzer um sich geschart, die die Entwicklungsgeschichte der befreienden „Revolution“ revuehaft unterhaltsam, wenn auch mit 100 Minuten etwas lang ausführt.

© Tristram Kenton

Angelegt ist das Stück als eine Art Schöpfungsgeschichte, in der am Anfang die „Faggotts“ in paradiesischer Harmonie leben konnten, bevor gewalttätige „Männer“, Inbegriff der patriarchalisch geprägten feindlichen Welt, sie vertrieben und fortan unterdrückten. Man begann, sich entweder der intoleranten Welt anzupassen oder im Untergrund zu leben. Mit Hilfe der „Queens“, der Frauenwelt, gewann man an Selbstvertrauen und es gelang, allmählich die Anfeindungen zu überwinden. Als Idyll präsentiert sich der Befreiungsakt dennoch nicht. Am Ende dringen Gewaltakte auch in die queere Community ein.

© Tristram Kenton

So bunt die Darsteller-Crew, so bunt auch die musikalische Umsetzung. Mit Gambe, Lauten, Psaltern, Geigen, Saxophonen und Flöten bereitet Philip Venables eine Melange von Klängen und Stilen aus alten und neuen Zeiten. Zeitlos wie der problematische Umgang mit nicht-konformen Lebensweisen.


The Faggotts and Their Friends Between Revolutions
Philip Venables

Jahrhunderthalle Bochum

Deutsche Erstaufführung und Premiere: 17. August 2024

Regie: Ted Huffman
Musikalische Leitung: Yshani Perinpanayagam

Trailer


Pedro Obiera, 18. August 2024