Saarbrücken: „Die tote Stadt“

(Premiere am 6. Oktober 2018)

Mariettas Triumph

Erich Wolfgang Korngolds lange vergessene Oper „Die tote Stadt“ hat seit einigen Jahren wieder Konjunktur. Frankfurt, Hamburg und Dresden haben sie im Repertoire. In diesem Jahr sind beinahe gleichzeitig Neuinszenierungen an der Komischen Oper Berlin und am Staatstheater Saarbrücken herausgekommen. Gerade die Saarbrücker Produktion zeigt, daß das Werk auch von einem mittleren Haus gut bewältigt werden kann.

Die Inszenierung von Aaron Stiehl erweist sich als werkdienlich. Gerade bei einem dem breiten Publikum weniger bekannten Stoff ist es von Vorteil, wenn wie hier in flüssigen Abläufen der Handlungsstrang klar herausgestellt wird. Dabei profitiert das über weite Strecken konventionelle szenische Arrangement ganz wesentlich von den Schauwerten des Bühnenbildes (Nicola Reichert) und der Kostüme (Sven Bindseil). Der vom Protagonisten „Paul“ eingerichtete kuriose Raum, der als „Kirche des Gewesenen“ mit Devotionalien seiner verstorbenen Frau Marie vollgestellt ist, wird hier an beiden Seiten von überdimensionierten Setzkästen gesäumt. Vor der Rückwand ist ein Altar samt Reliquienschrein mit dem Haar der Verstorbenen aufgebaut. Die im Text allgegenwärtigen Bezüge zur katholischen Frömmigkeit und ihrer Formwerdung in der Liturgie werden sinnfällig vom Bühnenbild aufgenommen. So ist es auch konsequent und nicht bloß ein Spiel mit dem Namen, wenn „Marie“ tatsächlich als Marienerscheinung auftritt, samt Strahlenkrone und blauem Madonnenmantel. Daß sie allerdings auch noch ihrem Gatten die Kommunion reicht, ist ein wenig zu viel des Guten.

Das Inszenierungsteam hat sich dafür entschieden, die ausgedehnten Traumszenen, die den wichtigen Mittelteil ausmachen, in dem nur leicht modifizierten Einheitsbühnenbild spielen zu lassen. Der Katholizismus kippt dabei ins Satanische. Pauls Freund Frank erscheint sogar mit Bocksbein und Hörnern. Die Schaustellerszene wird dann als buntes Intermezzo lustvoll ausgespielt und mit morbidem Humor serviert. Über wechselnde Schauvorhänge am Rückprospekt erlaubt man sich sogar einen Kalauer: Während vorne der „Pierrot“ in seinem traurigen Lied vom „Rhein“ singt, ziehen per Gemälde Szenen aus Wagners „Rheingold“ vorbei.

Mit Pauliina Linnosaari in der Doppelrolle als Tänzerin „Marietta“ und Marienerscheinung hat das Staatstheater Saarbrücken einen Besetzungscoup gelandet. So frisch gespielt und so souverän gesungen hat man die Partie selten erlebt. Alleine schon die Mühelosigkeit, mit der sie in dem berühmten Lied „Glück, das mir verblieb“ die Spitzentöne ohne jede Schärfe in die Gesangslinie zu integrieren weiß, ist große Bewunderung wert. Die junge Sopranistin verfügt über genau den saftig-vollen Ton, den eine Verführerin benötigt. Zugleich ist ihre Stimme so erstaunlich wandelbar, daß die sirenenhaften Rufe der im Traum erscheinenden Marie etwas faszinierend Jenseitig-Narkotisches haben.

Michael Siemon bleibt dagegen an ihrer Seite als „Paul“ recht steif und blaß. Die Töne seines ersten Auftritts klingen noch verheißungsvoll. Ein lyrisch grundierter Tenor mit leicht baritonaler Färbung läßt aufhorchen, offenbart aber bald seine Hauptschwäche: Die Höhenlage, die in dieser Partie stark gefordert wird, ist bei ihm unausgeglichen. Oft versucht er es mit dem Hochziehen des Brustregisters, was nur unter Druck im Fortebereich gelingt und gelegentlich zu Intonationstrübungen führt. In leiseren Passagen muß er dagegen vollständig in eine dünn und fistelnd klingende Kopfstimme umschalten. Eine Registerverblendung im Passagio ist kaum vorhanden.

Die anderenorts häufig anzutreffende Aufwertung der Rolle des „Frank“, indem man den betreffenden Sänger auch den „Pierrot“ singen läßt, findet in Saarbrücken nicht statt. Einerseits ist das schade, weil man von Peter Schöne, dem „Frank“, mit seinem kernigen, gut geführten Bariton auch gerne das Pierrot-Lied gehört hätte, anderseits präsentiert Salomón Zulic del Canto den Wunschkonzert-Schlager so geschmackvoll und sicher, daß diese Produktion gleich zwei gute Baritone auf der Habenseite verbuchen kann.

Die übrige Besetzung weist keine Schwächen auf. Die heikle Aufgabe, Korngolds üppig instrumentierte Partitur in einem eher trocken klingenden Raum zur Geltung zu bringen, löst das Saarländische Staatsorchester unter der Leitung von Justus Thorau souverän. Der junge Dirigent setzt mit den gut vorbereiteten Musikern mehr auf Durchhörbarkeit als auf Opulenz. Den Sängern kommt das zugute. Allerdings werden für Klangkulinariker, die an Korngold das Rauschhaft-Übersteigerte schätzen, letzte Wünsche offen bleiben.

Insgesamt ist eine kurzweilige Aufführung in einer werkdienlichen Produktion zu erleben. Die musikalische Qualität ist gediegen. Herausragend jedoch ist Pauliina Linnosaari in der weiblichen Hauptrolle. Der Abend gerät zu ihrem persönlichen Triumph.

Michael Demel, 20. Oktober 2018

© der Bilder: Andrea Kremper