Salzburg: „La Sonnambula“

Besuchte Aufführung: 13.3.2015 (Premiere: 22.2.2015)

Die Insel der Seligen muss Utopie bleiben

Sie nimmt einen herausragenden Platz im Schaffen Vincenz Bellinis ein: Die am 6.3.1831 im Teatro Carcano in Mailand uraufgeführte Oper „La Sonnamubla“, zu Deutsch „Die Schlafwandlerin“. Neben I Puritani und Norma steht dieses Werk des am 23.9.1835 im Alter von erst 33 Jahren verstorbenen Komponisten ganz oben in der Publikumsgunst. In den vergangenen Jahren war es insbesondere die hervorragende Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito an der Staatsoper Stuttgart – wir berichteten – , die die „Sonnambula“ wieder in den Fokus des Interesses rückte und von der auch ein DVD-Mitschnitt im Handel erhältlich ist.

Lavinia Bini (Amina), Pavel Kolgatin (Elvino), Hannah Bradbury (Lisa), Ugur Okay (Alessio), Chor

Hinter der Stuttgarter Produktion braucht sich diejenige des Landestheaters Salzburg nicht zu verstecken. Das ist eine grundsolide, gut durchdachte und musikalisch und gesanglich treffliche Angelegenheit. Für die Inszenierung konnte Agnessa Nefjodov gewonnen werden, die dem Salzburger Publikum bereits durch Arbeiten sowohl im Musiktheater als auch im Schauspiel bekannt ist. Es ist der jungen Regisseurin hoch anzurechnen, dass sie das Ganze nicht in einem herkömmlichen Bergpanaroma spielen ließ, wie es das Libretto will – die Natur findet nur in Form von auf die Hinterwand projizierten Schattenrissen stattlicher Bäume in ihre gelungene Regiearbeit Eingang -, sondern in einer von Eva Musil – von ihr stammen auch die zeitgenössischen Kostüme – entworfenen modernen Hotelanlage. Ferner ist lobenswert, dass sie nicht nur am Textbuch klebt, sondern ihrer Konzeption eine gelungene sozial- und gesellschaftskritische Basis gibt und gekonnt gleichgewichtig gravierende und heitere Momente in ihre Interpretation einfließen lässt.

Hannah Bradbury (Lisa)

Es geht recht lebendig und aufgedreht zu in ihrer Inszenierung. Von Personenregie versteht Frau Nefjodov etwas, das muss man sagen. Bei ihr erfahren nicht nur die Handlungsträger eine eindringliche Zeichnung; auch den einzelnen Mitgliedern des Chores, denen sie recht individuelle Züge verleiht, nimmt sie sich mit großer Liebe an und gibt ihnen einiges zu tun. Auch hier ist der Spagat zwischen Ernsthaftigkeit und Komik bestens gelungen. Langweilig wurde es wirklich nie, Leerläufe stellten sich an keiner Stelle ein. Alles wirkte wie aus einem Guss. Darüber hinaus versteht es die Regisseurin ausgezeichnet, aus der Musik heraus zu inszenieren.

Alexey Birkus (Rodolfo), Lavinia Bini (Armina)

In erster Linie geht es ihr um die Konfrontation einer festgefahrenen Gesellschaft mit einem aus der Gemeinschaft ausbrechenden Individuum in Gestalt der zuerst im Jeansanzug, später auch in Unterwäsche und Nachthemd erscheinenden Amina. Im Hotel sucht eine ständig urlaubsbedürftige, dezente bunte Sommerkleider tragende Gemeinschaft Ruhe und Erholung, wobei der Zeitpunkt der Abreise in sehr weiter Ferne liegen oder sogar niemals erfolgen dürfte. In der Tat scheint man sich in diesem Domizil ständig eingerichtet und gleichsam eine Insel der Glückseligkeit kreiert zu haben. Dem gelebten Kollektivgedanken ewiger Ferien vermag aber die zu diesem Ideal nachhaltig auf Konfrontationskurs gehende Amina, deren ständiges Schlafwandeln sie zur Außenseiterin macht, nichts abzugewinnen. Ihre Bedürfnisse sind denen des Kollektivs diametral entgegengesetzt. Die beiden Lebensweisen können langfristig nicht unter einen Hut gebracht werden.

In dem Maße, wie Amina den Ansprüchen der Gesellschaft nicht entspricht, egal ob sie das will oder nicht, scheitert aber auch die Gemeinschaft an ihr. Am Ende ist die Ruhe nur scheinbar wiederhergestellt. Wenn die Protagonistin zu guter Letzt noch kraftvoll eine Vase zerschmettert, was einige unter den Choristen sichtbar entsetzt, wird deutlich, dass der Übergang zur Tagesordnung, das belanglose Schachspielen und simple Kartenhäuserbauen, nur vorübergehender Natur ist. Der soziale Sprengstoff liegt immer noch in der Luft, eine erneute Explosion ist bereits vorprogrammiert. Die Intention einer Insel der Seligen, in der alle am gleichen Strang ziehen, muss eine gut gemeinte Utopie bleiben. Irgendwer tanzt eben immer aus der Reihe. Insgesamt haben wir es hier mit einem gelungenen Potpourri aus geistig-innovativem Anspruch und kurzweiligem Amusement zu tun, bei dem die Regisseurin nichts dem Zufall überließ – eine treffliches Ragout, das den großen Reiz dieser Neuproduktion ausmacht, die in der Rezeptionsgeschichte des Werkes einen nicht geringen Platz einnimmt.

Hannah Bradbury (Lisa), Alexey Birkus (Rodolfo)

Fast durchweg vorzüglich waren die gesanglichen Leistungen. Insbesondere zwei Mitglieder des aus dem Sängerstamm des Hauses und Gästen zusammengesetzten Ensembles verdienen besondere Erwähnung. Da war zuerst die junge Lavinia Bini, die in der Titelpartie eine echte Glanzleistung erbrachte. Schon darstellerisch war sie voll überzeugend. Mit großer Anmut und Schlichtheit zeichnete die über eine hervorragende schauspielerische Ader verfügende Sängerin ein einfühlsames Rollenportrait, das zudem von starken Gefühlen und sogar etwas Schüchternheit geprägt war. Auch stimmlich war sie phantastisch. Trotz ihres jugendlichen Alters ist ihr Sopran bereits herrlich ausgereift, weist eine hervorragende tiefe Fokussierung auf und spricht in allen Lagen gleichermaßen gut an. Ihre Mittellage klingt sehr warm und gefühlvoll und die eklatanten Spitzentöne sind von enormer Kraft. Der Wechsel von leicht naiver und dramatischer Tongebung gelang ihr vortrefflich. Auch in puncto Ausdrucksintensität des Vortrags blieben keine Wünsche offen.

Nicht minder beeindruckend schnitt Alexey Birkus in der Partie des Conte Rodolfo ab. Auch hier haben wir es mit einem noch jungen Sänger zu tun, der über prachtvolles, sonores und bestens italienisch geschultes Bass-Material verfügt, das er differenziert und nuancenreich einzusetzen wusste. Auch darstellerisch entsprach er seiner Rolle voll und ganz. An das hohe Niveau dieser beiden vermochte die köstlich eifersüchtige und trotzige Lisa der mit ebenfalls gut durchgebildetem, tiefgründigem Sopran singende Hannah Bradbury problemlos anzuschließen.

Letzteres gelang Pavel Kolgatin in der Rolle des Elvino überhaupt nicht. Die Vorschusslorbeeren, die der Gast von der Wiener Staatsoper im Vorfeld bekam, waren in keiner Weise gerechtfertigt. Die Stimme weist überhaupt kein schönes appoggiare la voce auf. Die fehlende stimmliche Anlehnung ließ seinen Gesang ausgesprochen flach wirken. Und nicht immer klang die extreme Höhe unangestrengt.

Da war sein Tenorkollege Min-Young Kang in der nur kleinen Rolle des Notars weit besser. Eine ansprechende Leistung erbrachte die über einen vorbildlich gestützten Mezzosopran verfügende Teresa von Anna Maria Dur. Und auch Ugur Okays voll und rund singender Alessio vermochte sowohl vokal als auch schauspielerisch zu punkten. In jeder Beziehung mächtig ins Zeug legte sich der von Stefan Müller bestens einstudierte Chor des Salzburger Landestheaters, dem seine ihm von der Regie auferlegten Aktionen sichtbar Spaß bereiteten und der recht profund klang. Dass der letzte Grad an Homogenität des Zusammenklangs nicht ganz erreicht wurde und hier und da mal eine Einzelstimme etwas herausragte, fällt angesichts der famosen Gesamtleistung nicht ins Gewicht.

Lavinia Bini (Amina), Chor

Am Pult führte Lorenzo Coladonato das gut gelaunt und frisch aufspielende Mozarteumorchester Salzburg und die Gesangsolisten, auf deren Bedürfnisse er sehr achtete, sicher durch den Abend. Sein Dirigat zeichnete sich durch gute Italianita aus und war dynamisch ausgewogen. Da drängte sich kein Instrument zu sehr in den Vordergrund. Indes blieb er die ganz große Leidenschaftlichkeit und Impulsivität im eher kammermusikalisch geprägten Klangteppich schuldig, was ein gewisses Manko darstellte.

Fazit: Eine insgesamt recht beachtliche Aufführung, die die Fahrt nach Salzburg lohnte.

Ludwig Steinbach, 14.3.2015

Die Bilder stammen von Anna Maria Löffelberger