Dresden: „Madama Butterfly“

Premiere: 2.4. 2022. Besuchte Vorstellung: 8.4. 2022

Sie ist – stimmlich und gestisch – eine reife Cio-Cio-San: Kristine Opolais. Allein die Tatsache, dass sie, im Mittelpunkt einer Oper stehend, in der sie ab ihrem ersten Auftritt fast pausenlos auf der Bühne zu stehen hat, den Raum zu füllen vermag, den ihr die Regie großzügig und souverän einräumt, macht die neue Butterfly der Sächsischen Staatsoper zu einem tränenseligen Vergnügen – den Rezensenten möchte ich sehen, der trotz permanten Reflektierens über die Mach-Art und die Protagonisten dieses Abends kühl bleibt.

Nun könnte, ja müsste ein politisch korrekter Zuschauer im Deutschland des Jahres 2022 zunächst einmal fragen, wie er es mit dem sog. Gehalt des Werks hält, dessen „schöne“ Melodien und dessen zügige Dramaturgie eventuell nicht darüber hinwegzutäuschen vermögen, dass Madama Butterfly den Kolonialismus mit Hilfe von genialen und tief ergreifenden Melodien mit einer trügerischen Sauce überkleckert. Versuche, dem Werk die Brutalität wiederzugeben, die noch in der Erstfassung stärker enthalten war, gab und gibt es genug – doch welchen Sinn sollte es haben, die Wiederherstellung der ursprünglichen Intentionen der Schöpfer des Werks zugunsten einer ganz anderen, ja gegenteiligen Lesart zu suspendieren? Joachim Herz hat einst eine Spielfassung der Urversion der Butterfly auf die Bühne gebracht, um zu belegen, dass sich Puccini irrte, als er die Oper in einer zweiten, ideologisch gleichsam abgemilderten Werkgestalt in Brescia zur erfolgreichen Uraufführung brachte. In Dresden wählt man einen gänzlich anderen – und probaten Weg: die Koproduktion, u.a. mit Tokyo, wurde von einem japanischen Regisseur inszeniert, der den kolonialen Blick auf die Figuren und die Oper genauer unter die Lupe nimmt. Amon Miyamoto hat, zusammen mit seinem Kostümgestalter, dem mittlerweile verstorbenen Kenzo Takada, dem Bühnenbildner Boris Kudlicka und dem Videographen Bartek Macias, nicht zuletzt dem Lichtgestalter Fabio Antoci, eine Bühnenästhetik realisieren lassen, die Japan deutlich und liebevoll zitiert, das eine oder andere Klischee (das keines ist) in den zahlreichen Bildprojektionen präsentiert und es doch schafft, mit Hilfe einer in jedem Sinne luftigen Bühnentechnik eher eine Parabel als, trotz überdeutlicher Kirchenfenstereinblendung, eine Hollywood-Produktion auf die Bühne zu bringen; nebenbei fällt einem wieder auf, dass die klassische Filmmusik nicht allein Wagner und Strauss, auch Puccinis Tonsprache zumal der weltberühmten Madama Butterfly einiges verdankt.

Ob einem die Bühnenästhetik mit ihren zahlreichen Illustrationen im Stil eines konkreten Symbolismus (Kirschblüten, Himmel, Sterne und ein gigantischer Planet) und szenischen Verdoppelungen (die verarmte, singende und tanzende Butterfly auf der Strasse) gefällt oder nicht gefällt, ob sie einem „zuviel“ ist oder im Rahmen zitierter Japanbilder gerade richtig anmutet, ist eine Sache des persönlichen Geschmacks, nichts sonst. Soffiten bewegen sich oft von links nach rechts, akzentuieren neue Räume, wenn sich der zentrale Holzkubus mit seinen verschiedenartigen Seiten und Öffnungen in eine neue Position dreht, um den agierenden Personen einen neuen Rahmen zu geben. Japan ist in den Kostümen unverstellt gegenwärtig; es hat schon seinen Sinn, wo Miyamoto die Handlung in direkten Bezug zur anglo-japanischen Allianz von 1902 und zum russisch-japanischen Krieg von 1904 setzt. Wenn Pinkerton im 3. Akt kurz nach Nagasaki zurückkehrt, ist er ein vom Krieg buchstäblich Versehrter, der, obwohl er eine „standesgemäße“ amerikanische Frau geheiratet hat, vor allem deshalb leidet, weil er Butterfly immer innig geliebt hat – so wie, das ist das Grundkonzept der psychologisch motivierten Inszenierung, Cio-Cio-San im Gleichklang mit dem Amerikaner verbunden war und blieb. Der japanische Regisseur behauptet also nicht, dass der Mann aus den USA ein verlogener und selbstmitleidiger wie inkonsequenter Kolonialist, sondern wie seine Geliebte ein Opfer der politisch-gesellschaftlichen Zustände und des Krieges ist. Das Schöne und Entscheidende an dieser Lesart ist die Tatsache, dass ihm Puccinis Musik – eine Musik der tiefsten Zuneigung zu den Figuren – niemals widerspricht. Miyamoto widerholt also mit seiner Deutung die Liebe, die Puccini einst seinen leidenden Figuren, insbesondere der Cio-Cio-San, der Suzuki und dem Kind, aber auch den Männern geschenkt hat. Er will nicht klüger sein als der Komponist und seine Librettisten, aber er geht über das zumindest bei uns übliche Bild der „problematischen“ Oper empathisch hinaus.

Sieht man auch das, was im Programmheft und von der Dramaturgie (Johann Casimir Eule) an Psycho- und Soziologischem behauptet wird? Sagen wir so: Wenn wir es wissen, sehen wir es – wir sehen ja auch, jeweils zu Beginn der drei Bilder, wie Pinkerton nach dreissig Jahren stirbt und zuletzt seinem Sohn, der zunächst nichts von seiner japanischen Vergangenheit weiss, nun endlich alles mitteilt. Alexander Ritter spielt den erwachsenen Sohn, der fast die gesamte Spielzeit über zum Zeugen der Ereignisse und zum Imaginator der von ihm nicht erlebten Szenen wird; das kleine Kind, Typus: Süßer Fratz,ist Georg Sund, der die gute alte Theaterweisheit „Keine Tiere, keine Kinder“ ins Recht setzt – und doch so wichtig für die Entwicklung der fatalen Geschichte ist. Beide Akteure, der große und der kleinere, machen ihre Sache ausgesprochen gut und diskret genug. Eine Konsequenz der von Miyamoto interpretierten Handlung ist die Tatsache, dass sich Cio-Cio-San nicht aus dem Gefühl der persönliochen Enttäuschung heraus umbringt, sondern mit echt japanischen Ethos den letzten freien Entschluss ihres Lebens in die Tat umsetzt: Wer nicht in Ehren leben kann, kann in Ehren sterben, um, das ist der Sinn dieses Suizids, dem Sohn eine sozial gesicherte Existenz im fremden Land zu verschaffen.

Dass der Regisseur mit tiefer Zuneigung zu den sich begegnenden Liebesleuten und nicht mit dem scharfen Blick des Ideologiekritikers auf Madama Butterfly schaut, belegt auch der Umstand, dass die winzige, aber so wichtige Rolle der Kathe (musikalisch eine Wurzen), mit Aufmerksamkeit bedacht wird. Die Frau, die an Cio-Cio-San schuldlos schuldig wird, behält ihre Ehre, wird im Übrigen von der jungen Nicole Chirka, einem Mitglied des Jungen Ensembles Semperoper Dresden, sehr schön gesungen. Wichtiger sind freilich die anderen kleineren und großen Rollen: Kristina Opolais glänzt durch eine stimmliche Stärke, wenn auch in der Höhe nicht völlig durch letzte vokale Freiheit, und durch eine dunkle Sopranfärbung, die aus dieser Cio-Cio-San von Anfang an eine selbstbewusste Frau macht, die sich schon sehr schnell von ihren Wurzeln emanzipiert, weil sie sich in Beziehung zu Pinkerton zurecht als gleichberechtigt sieht – eine Lesart, die im Widerspiel des Texts von Illica und Giacosa fast völlig funktioniert, wäre da nicht Pinkertons früher Hinweis auf die andere Frau: ein Widerspruch, den auch diese Inszenierung nicht völlig ausräumen kann, aber es verschlägt im Grunde nichts. Freddie de Tommaso singt einen stimmsicheren, lyrisch wie heldisch begabten Pinkerton wie aus dem Bilderbuch der italienischen Oper; kein Wunder, dass Cio-Cio-San über drei Jahre auf ihn wartet. Schön auch, dass der Sharpless des Gabriele Viviani gleichermaßen über die nötige vokale Pracht wie über die Intelligenz verfügt, diese wichtige Rolle mit artikulatorischer Prägnanz zu erfüllen – seine letzte Begegnung mit Suzuki und Cio-Cio-San gehört zu den dramatischen Höhepunkten des Abends. Die Suzuki der Christa Mayer lässt keine Wünsche offen, ebenso wenig der Fürst Yamadori des Sebastian Wartig (und wieder fragt sich wohl mache Zuschauerin, wieso Cio-Cio-San nicht dem stimmlichen Charme des gutaussehenden Mannes / Sängers erliegt). Aaron Pegram spielt den Goro wie de Tommaso den Pinkerton: rollendeckend, also ein wenig „schmierig“ und stimmlich deutlich wie spielerisch überzeugend. Bleibt die Edelwurzen des Onkel Bonzo: Nicolai Karnolsky (eine alte Bekanntschaft aus dem Nürnberger Ensemble) wütet (s)ein(e) paar hübsche Minuten über die Bühne: in grellroter, quasi heidńischer Maske.

Und die Basis? Vergessen wir nicht den wie stets wunderbaren Chor der Sächsischen Staatsoper unter André Kellinghaus und die Sächsische Staatskapelle. Sie spielt an diesem Abend einen so bezwingenden wie zauberhaften Puccini heraus. Omer Meir Welber „kann“ nicht allein Mozart, er ist auch um 1900 zuhaus – die Staatskapelle spielt unter seiner Leitung eine gefederte wie gespannte, dramatisch mitreissende und tieflyrische, dabei mit ihrer raffinierten Motivik, ihrem Melos und ihrem brillanten Orchester glasklar organisierte Madama Butterfly. Schon musikalisch ist diese Produktion ein großes Vergnügen – szenisch ist sie delikat, um menschenfreundliche Aufklärung bemüht, ästhetisch geschmackvoll und stets interessant. Die Zustimmung des Publikums war jedfenfalls ziemlich eindeutig. Und am Ende dürfen sich Cio-Cio-San in irgendeinem Jenseits sogar wieder glücklich begegnen – Herz, was willst du mehr?

Frank Piontek, 11.4. 2022

Fotos: Ludwig Olah