Dresden: „Mefistofele“, Arrigo Boïto

Der deutsche Magier, Astrologe und Wahrsager Johann Georg Faust hat vermutlich ab 1480 gelebt. Die Überlieferungen über seinen Lebenswandel und die mysteriösen Umstände seines Todes im Jahre 1548 in der badischen Kleinstadt Staufen entwickelten sich zu einer weit über die deutschen Lande bekannten Volkssage: Bewohner des Städtchens wollen in der Mordnacht eine unheimliche Gestalt „wie ein großer schwarzer Vogel“ in das Logierhaus Faustens einfliegen gesehen und Schwefelgeruch wahrgenommen haben.

© David Baltzer

Von jenen, die den Faust-Stoff auf die mannigfaltigste Art aufgegriffen haben, war Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) einer der Intensivsten. Im Verlaufe von fast 60 Jahren seines Lebens hat er aus dem trivialen Sujet in mehrfachen Entwicklungsstufen beginnend mit der Geschichte um ein unglücklich gemachtes Mädchen und einen verzweifelten Wissenschaftler bis zu einem umfassenden Menschheitsdrama zwischen Himmel und Hölle gestaltet. Kaum verwunderlich, dass sich Komponisten Goethes Arbeit bedienten, allerdings ohne seinem philosophischen Spannungsbogen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft auch nur angenähert in ihren Werken zu entsprechen. Robert Schumann (1810-1856) entnahm dem Goethewerk lediglich Verse der Gretchentragödie, Hector Berlioz (1803-1869) und Charles Gounod (1818-1893) beschränkten sich auf die Vertonung publikumswirksamer Szenen aus dem ersten Teil der Tragödie. Der Philologen-Verband sah in Gounods Oper sogar eine Verballhornung des Faust-Themas, so dass in Deutschland seine erfolgreiche Oper zeitweise unter dem Titel „ Margarethe“ aufgeführt werden musste.

Am ehesten sind die Bemühungen, dem Gehalt des Dramas in einer Oper gerecht zu werden bei dem Dichter und Komponisten Arrigo Boïto (1842-1918) mit seinem „Mefistofele“ zu spüren. Boïto war vor allem von der Figur des Mephistos fasziniert und gab der Gretchen-Tragödie nur eine Randbedeutung. Zum eigentlichen Thema wurde das Ringen um die Seele Fausts, um den Geist, der stets verneint. Die Kontrahenten der Fehde sind Mephisto und Gott. Faust steht nicht auf einer Ebene mit Mephisto. Überhaupt erscheinen die Menschen wie Marionetten und Mephisto wird zum Protagonisten.

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In über fünf Stunden Opernaufführung bemühte sich Boïto, dem Geiste der Arbeit Goethes zu entsprechen, aber seine Bemühungen wurden vom Mailänder Publikum des Jahres 1868, auch wegen äußerer Umstände, nicht akzeptiert. Eine reduzierte Neufassung im Jahre 1875 hatte in Bologna mehr Erfolg, begrenzte aber auch den philosophischen Bezug.

Die Musik Arrigo Boïtos orientierte sich nur begrenzt an der italienischen Operntradition, sondern ließ sich von der deutschen Romantik sowie von Berlioz, Wagner und Liszt beeinflussen. Seine Musiksprache erschließt sich nicht leicht und offenbart sich bei aller Farbigkeit vor allem in den Details der Instrumentation und bei der Charakterisierung der Personen.

Mefistofele ist Boïtos einzige vollendete Oper geblieben, denn an seiner unvollendeten „Nerone“ hatte er sich gut sechs Jahrzehnte abgearbeitet, ohne sie abzuschließen. Erfolgreicher war Boïto als Librettist der Spätwerke Giuseppe Verdis (1813-1901).

Jedem Leser dieses Berichtes, der bis dato auch nur eine Stufe des deutschen Bildungssystems durchlaufen hat, dürfte die Handlung der Oper aus seinem Bildungsgang in Erinnerung geblieben sein.

Für die Regisseurin der Dresdner Inszenierung Eva-Maria Höckmayr war Boïtos Konzept, die Auseinandersetzung zwischen dem verkopften, vorwärtsstrebenden Fausts mit Mephisto auf dem überkommenen Geschlechterdiskurs abzuhandeln, offenbar nicht schlüssig, zu schmal und bedurfte der Erweiterung. Werden doch das Empathische und das Charakterisierende in der menschlichen Gesellschaft eher dem Weiblichen zugeschrieben, so dass eine rein männliche Sicht der Dinge eine Unmöglichkeit bedeuten würde. Mit der Schauspielerin Martina Gedeck bewegte sich deshalb eine bei Boïto nicht vorgesehene Figur, „eine Frau“, auf der Szene, die stumm-ironisch das Bühnengeschehen kommentierte und damit die Aussagen der Hauptfiguren gelegentlich gerade rückte. Zugleich führt die moralische Überlegenheit dieser Figur das Publikum zu Goethes „das ewig Weibliche führt uns hinan“ zurück. Erst in der zweiten Hälfte der Aufführung sprach Martina Gedeck auch verbindende und in die Szene einführende Goethe-Texte.

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Ebenso das von Boïto fast episodisch mit der Kerkerszene abgehandelte Schicksal der Margherita war der Regisseurin zu wenig pointiert und wurde zu einer echten Hauptrolle gestaltet. In einer beklemmenden stummen Parallelszene zur Harzer Walpurgisnacht ließ Frau Höckmayr die Margherita das von Faust gezeugte Kind gebären und verknüpfte den Ablauf gekonnt mit der, offenbar unter Rauschgifteinfluss entwickelten Vision des Fausts.

In den Dialogszenen konzentrierte eine von Momme Hinrichs minimalistisch ausgestattete Bühne das Publikum auf die Handlung. Nur üppige Videoinstallationen belebten den Hintergrund. Hinrichs konnte aber auch bombastische Wirkungen hervorrufen, wenn er für die Chorszenen pompöse Drehbühnen-Technik einsetzte. Einen besonderen Effekt erreichte er mit dem Abschlussbild, als im Arbeitszimmer Fausts statt der Bücher Menschen in den Regalen standen.

Mit ihrer bis ins Detail durchdachten Kostümgestaltung unterstrich Julia Rösler die Aktualität der Sujets.

Es war schon spannendes und modernes Operntheater geboten worden. Zumindest in Ansätzen ist es Eva-Maria Höckmayr mit ihrer ersten Arbeit an der Semperoper gelungen, philosophische Fragen um Sünde, Erlösung und die Macht der Verführung zu erfassen. Damit wäre schon ein guter Anfang gegeben. Aber um die Tiefen der menschlichen Seele auszuloten, warum wir uns verstärkt wieder mit Krisen, Ideologien und Kriegen beschäftigen müssen, wäre schon deutlich mehr erforderlich gewesen. Eventuell wäre das „Doktor-Faust-Fragment“ des Ferruccio Busoni (1866-1924) oder mal etwas gänzlich Neues für die hochtalentierte Eva-Maria Höckmayr eine dankbare Aufgabe, die Sache zu vertiefen.

Es war übrigens die erste Inszenierung des „Mefistofele“ im Semperbau. Lediglich in Form eines Gastspiels anlässlich der Musikfestspiele im Jahre 1987 hatte das Werk die Bühnenbretter des Hauses bereits gesehen.

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Grandios gestalteten die musikalischen Leistungen aller Beteiligten den Premierenabend:

Die Musikalische Leitung des Premierenabends hatte der seit dem Jahre 2012 mit dem Haus verbundene italienische Dirigent Andrea  Battistoni übernommen. Die nicht unproblematische Musik des Arrigo Boïtos mit ihrer mutigen Mischung der italienischen Operntradition Rossinis sowie des mittleren Verdis mit dem Usus der deutschen Romantik Liszts und Wagners war bei ihm in den besten Händen. Die nicht einfache Partitur mit ihrer besonderen Farbigkeit und der oft überraschend sparsamen Instrumentation war emotional angepackt und die südliche Exaltiertheit mit nordischer Klarheit ideal ausbalanciert. Letztlich ging es um das große Ganze, um das was die Welt zusammenhält.

Dabei behielt Andrea Battistoni den gewaltigen Apparat von Orchester, Chor und Solisten stets zuverlässig im Griff. Das Überwältigungspotential des Orchesters mit seiner Klangmasse bereiteten Battistoni keine Ängste und er nutzte das Potential der Musiker der Sächsischen Staatskapelle, die ihm begeistert folgten. Er dynamisierte sensibel, schürte Spannungen, wechselte zwischen den düsteren als auch lichten Farben und arbeitete die unterschiedlichen Schichten der Partitur exakt heraus. In den dramatischen Momenten ließ er es ordentlich krachen und stützte sich auf die hervorragende Bläsersektion der Staatskapelle, sorgte aber immer für Transparenz. Neben dem Orchester spielte sich das eigentliche Drama der Oper in den Chorszenen ab. Druckvoll lotete Battistoni die Steigerungen der mit wonnevoller Wucht und Qualität gesungenen Chöre aus. Der Sächsische Staatsopernchor und der Kinderchor der Semperoper, die die ausgelassene Stimmung der Bevölkerung beim Festtag, die himmlischen Heerscharen und die böse Geisterwelt beim Hexensabbat darstellten, waren von Jan Hoffmann und Claudia Sebastian-Bertsch mit einer beeindruckenden Aufführung voller Schönheit, aber auch mit Bedrohlichkeit ausgestattet worden. Mit Anmut und Schwung ließen sie die Szenen fließen, ohne die dramatische Spannung der Aufführung zu gefährden.

Für den polnischen Sänger-Darsteller Krzysztof Bączyk war der Mefistofele nicht nur ein Rollendebüt, sondern auch sein erster Kontakt mit dem Dresdner Opernpublikum. Die dankbare Titelrolle mit ihrer Dämonie schien ihm auf den Leib geschrieben zu sein. Sarkastisch kommentierte die wunderbare Bass-Stimme seine Sicht auf die Welt. Mit einer dominanten Bühnenpräsenz sowie einem überwältigenden Gesang zeigte Bączyks Mefistofele mit ätzendem Zynismus und bitterem Humor, dass der Teufel eine Chiffre für jene dunklen Mächte ist, auf die sich die Menschheit eingelassen hat. Facettenreich blieben seine Taschenspielertricks, wenn er sich, überredend und schmeichelnd, seinem Opfer Faust näherte und souverän, wenn er über dem Tanz der Hexen thronte.

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Als wandlungsfähiger Faust bewährte sich Pavol Breslik. Als Gegenpol zum Mefistofele Bączyks versucht er auch darstellerisch das Scheitern des menschlichen Denkens zu belegen. Seine Stimme war in allen Lagen perfekt geführt und traf genau mit ihrer Mischung aus Sinnlichkeit und moralischer Qualität die abgewogene Charakterisierung der Rolle.

Der italienische Gastsänger Omar Mancini wurde mit seiner Darstellung des Famulus  Wagner im Zusammenklang mit dem Faust Bresliks für das Dresdner Opernpublikum eine tenorale Entdeckung.

Musikalisch und darstellerisch ausdrucksstark wartete Marjukka Tepponen in ihrem Rollendebüt als Margherita auf. Vor allem in dem für ihre Partie zentralen dritten Akt, als Margherita im Kerker auf ihre Hinrichtung wartete. In einer Wahnsinns-Szene beherrschte sie die breite Skala von innig lyrischen bis zu den hochdramatischen Momenten, wenn ihre verzweifelte Stimmung von den ihr zur Last gelegten Umständen, der bevorstehenden Exekution hin zur sehnsuchtsvollen Erinnerung an bessere Zeiten wechselte.

Mit ihrem gut grundierten warmen Sopran und den kraftvollen perfekt fokussierten Höhen bereichert die aus Finnland stammende Marjukka Tepponen mit dem Saisonbeginn 2024 im Festengagement das Hausensemble. Nicole Chirka brachte als lasziv aufregende Marta in ihrem aufreizendem Spiel und ihrer vollen schönen Altstimme einigen Humor auf die Bühne.

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Auch die schöne Helena von Troja der Sopranistin Clara Nadeshdin versetzte Faust in höchste Ekstase. Ihr prätentiöser Gedankenaustausch mit der Führerin des Chores der Sybillen Pantalis, von der bezaubernden Dominika Ṧkrabalová dargeboten, gehörte zu den musikalischen Leckerbissen des Abends. Stahlharte Töne schleuderte Clara Nadeshdin in ihrer Vision vom Schicksal Trojas in das Auditorium.

Lang anhaltende, stehende Ovationen feierten die aktiven Musiker und das Inszenierungsteam für das Erlebte.

Ein gelungener Auftakt für eine vielversprechende Saison unter der neuen Leitung des Hauses.

Thomas Thielemann 30. September 2024


Mefistofele
Oper von Arrigo Boïto
Semperoper Dresden

Premiere am 28. September 2024

Inszenierung: Eva-Maria Höckmayr
Musikalische Leitung: Andrea Battistoni
Sächsische Staatskapelle Dresden