Dresden: „Roméo et Juliette“, Charles Gounod,

Für die kulturelle Betreuung der Besucher der Pariser Weltausstellung des Jahres 1867 waren den Opernhäusern der Stadt zugkräftige neue Werke von Nöten. Mithin verständigten sich die erfahrenen Librettisten Jules Barbier (1825-1901) und Michel Carré (1819-1872) mit dem Komponisten Charles Gounod (1818-1893), um an ihre frühere erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Faust-Oper anzuknüpfen. Wieder sollte ein populärer Stoff der Historie, nämlich die Tragödie um das Paar „Romeo und Julia“ das Sujet liefern. Wie so ziemlich alle Adaptionen um das berühmteste Liebespaar der Weltliteratur, führten die Librettisten ihre Bearbeitung der Handlung um die „populären Liebenden“ auf den englischen Dichter, Theaterunternehmer und Schauspieler William Shakespeare (1564-1616) als Quellengeber zurück. Dabei ist ziemlich gesichert, dass Shakespeare sein 1597 uraufgeführtes Stück von einem erzählenden Gedicht ableitete, das der neunzehnjährige Jurastudent Arthur Brooke 1563 kurz vor seinem See-Tod aus dem Französischen übersetzt und bearbeitet hatte. Brooks fand den Stoff für sein Gedicht in einer Sammlung „tragischer Geschichten“, die der französische Herausgeber Pierre Boaistuau (um 1520-1566) im Jahre 1559 dem Schaffenswerk des aus Italien stammenden Matteo Bandello (um 1485-1561) entnommen hatte. Bandello, ein typischer Renaissance-Schriftsteller, musste nach wechselvollem Leben aus seinem Heimatland nach Frankreich fliehen und war dort 1550 zum Bischof von Agen ernannt worden. Der fleißige Bandello hat 214 Novellen mit erotisch-drastischen und zum Teil schlüpferischen Inhalten hinterlassen, die durchaus ins „Dekamerone“ gepasst hätten. Seine Novelle mit dem Titel „La sfortunata morte di due infelicissimi amanti“ berichtete vom tragischen Tod der unglücklich Liebenden Romeo und Giulietta.

© Klaus Gigga

Soweit man die tragische Geschichte vom Tod des Paares zurückverfolgt, blieb die mangelnde Kommunikation zwischen Beteiligten als das letztendlich Verursachende der Tragödie in der Bearbeitungen unverändert und die Namen der beiden Protagonisten nur durch die Sprachenweitergabe angepasst. Interessant ist aber der Wandel der moralischen Beurteilungen von Familienfehden, des Suizids, der Sterbehilfe und des Einsatzes von Drogen durch die unterschiedliche religiöse Prägung derer, die sich des Sujets bemächtigt hatten. Schon deshalb wurde die Oper zu einer gesellschaftlich auch für uns aktuellen Angelegenheit.

Für die Zwecke des Musiktheaters hatten Jules Barbier und Michel Carré den farbigen und vielschichtigen Text William Shakespeares plakativ für die Opernkonvention ihrer Zeit zurechtgestutzt. Der dramaturgische Fluss des Vorbildes war in abgerissene Einzelszenen zerteilt, damit die Geschichte des bekanntesten Liebespaares der Literatur für effektvoll zu singende Arien und Duette für Sopran, Tenor, Bariton, Bass sowie zu Chören dienen konnte.

Der ob seiner Kirchenmusiker-Tätigkeiten mit melodischen Wirkungen erfahrene und dank seiner reichen Operntätigkeit mit allen Wassern der musikalischen Theaterpraktik gewaschene Charles Gounod (1818-1893) war in den 1860-Jahren zu einem produktiven Komponisten-Handwerker sowie ein glänzender Melodiker geworden. Radikale musikalische Richtungen schlug er keine ein, bediente aber einen bis zur Jetztzeit gefragten Musikgeschmack breiter Kreise der Freunde der Hochkultur.

Gounod war zu verdanken, dass die französische Oper im späten 19. Jahrhundert ihren Weg von der multinationalen „Grand opéra“ zu einem rein französischen Stil fand. In dem romantischen „Drame lyrique“ war bewusst auf allzu viele Massenszenen verzichtet und das Private der Akteure, ihre individuellen Gefühle sowie die Beziehungen zwischen den Charakteren in den Vordergrund gerückt worden. Im Zentrum der Oper standen die vier Duette der beiden Liebenden, um die sich der Rest der Handlung aufbaute. An den Schlüsselstellen zu hörende Erinnerungs- und Liebesmotive wirkten wie eine musikalische Klammer des Tonstücks.

Mit ihrer ersten Arbeit am Haus wollte die in Warschau aufgewachsene Regisseurin und Schauspielerin Barbara Wysocka (* 1978) eine Inszenierung mit jungen Sängern und für ein junges Publikum gestalten. Sie verlegte die Handlung ohne viel Federlesens aus dem Verona der Mitte des 16. Jahrhunderts in eine Stadt des Jahres 2025. Aus den verfeindeten Adelsfamilien Capulet und Montagues wurden die der Oberschicht der Jetztzeit zu zuordnenden Sippschaften des Gemeinwesens, die um die gesellschaftliche Vormacht ihre Revierkämpfe ausfochten.

© Klaus Gigga

Zwischen der vermuteten Handlungszeit des Opernvorbilds und der Jetztzeit liegen immerhin ein halbes Jahrtausend Menschheits- und Kulturgeschichte. Unsere Kommunikationsmöglichkeiten und unsere Bildungsgrade haben inzwischen zu völlig anderen Denk- und Beziehungsmustern geführt und mussten mit der Inszenierung überbrückt oder ignoriert werden. Erstaunlicherweise könnte letzteres dank des Umgangs der jungen Generation mit den Produkten der Sciencefiction- und Computerspielindustrie sogar funktionieren. Ungewöhnliche Zusammenhänge werden in unserer Zeit eher hingenommen. Barbara Wysocka erprobte dabei eine alte Formel der Oper, die unsere Denkweise über die Welt zwar nicht verändern wird, aber alltägliche Erkenntnisse bestätigt, indem sie versuchte, die großen Probleme unserer Gegenwart auf die begrenzte Stadtgesellschaft zu fokussieren. Die vom Regiekollektiv  geschaffenen Bilder berührten den Kern des Problems, dass tiefer sitzende Gegensätze nicht mit einem Handstreich aus der Welt zu schaffen sind. Die etwas naiv inszenierte Gewaltszene mit ihren beiden Todesopfern ließe über das Jetzt und Heute nachdenken.

Die Bühnenbildnerin Barbara Hanicka hatte die Protagonisten in die Betonwüste einer Großstadt verortet. Zwei schmucklose aus kompakten Bögen gestaltete funktionale Konstruktionen, die auf der Spielfläche bewegt werden konnten, bildeten mal deren Begrenzung, mal auch Orte des Agierens. Aufbrüche für die intimeren Szenen ermöglichten den Einblick in das Private. Der berühmten Balkonszene nahm dieser Handlungsort jeden Anflug von Romantik. Die Kostüme von Julia Kornacka entsprachen der Kleidung unserer Zeit, waren aber geschickt auf die Charaktere der Figuren abgestimmt.

Mit ihrem Bühnenkönnen gelang es Barbara Wysocka, die düstere Stimmung des Stückes einzufangen und die Geschichte der unglücklichen Liebe nur begrenzt in der Jetztzeit anzusiedeln. Das Geschehen auf der Szene harmonierte perfekt mit der Partitur des Komponisten, was allerdings Kompromisse erforderte. Meine persönliche Vorliebe für konzertante Aufführungen klassischer Opernwerke konnte der Abend deshalb nur verstärken.

Der Musikdirektor des Nationaltheaters Prag und ausgebildete Sänger Robert Jindra (*1977) leitete bei seinem Hausdebüt die Musiker der Staatskapelle sicher durch das musikalische Geschehen. Dank der Qualität der Staatskapellmusiker sowie Jindras zügiger Tempi wurden die Gounod-Kitschsegmente der Musik regelrecht kupiert und der Esprit der Komposition voll zur Wirkung gebracht. Immer wieder gelangen schöne Momente und ließen das Orchester mit seinen reichen Farben glänzen. Dank Jindras straffen Dirigats war stets ein guter Kontakt zwischen dem Graben und der Szene gegeben.

Gesungen wurde trotz des teils differierten Bühnengeschehens überwiegend hervorragend. Auch darstellerisch war hoher Einsatz und Freude am Spiel zu spüren.

© Klaus Gigga

Die Titelpartien waren mit der jugendlich-dramatische Sopranistin vom Hausensemble Tuuli Takala und dem chinesisch-australischen Tenor Kang Wang durch zwei Rollendebütanten glänzend besetzt.

Tuuli Takala brachte gesanglich sowie darstellerisch unzählige Facetten auf die Bühne und durchlief einen ergreifenden Bogen von der lebensfrohen, aber angepassten Tochter zur souverän, liebenden Frau. Wenn sie sich verströmte in Liebe und Schmerz, hatte ihr Gesang Anmut, Schmelz und Innigkeit. Ihre Juliette bezauberte mit einer klaren, biegsamen, leuchtenden und elegant geführten großen Sopranstimme, die sich der wachsenden Reife der Figur anpasste. Ihre Koloratur-Auftrittsarie sang sie mit bezwingender Kraft, Geschmeidigkeit, Eleganz und grenzenloser Ausdrucksstärke. Tuuli Takalas Leistungen im Duett des vierten Aktes mit den Wechseln zwischen Leidenschaft, Verzweiflung und Vorsicht waren eine vokale und darstellerische Offenbarung.

Als Roméo konnte der Hausdebütant Kang Wang einen strahlenden, apart timbrierten Tenor für die technisch anspruchsvolle Partie mit einer geschmackvollen Gesangslinie auf die Szene bringen. Wang entwickelte seinen Gesang musikalisch souverän geführt, stilvoll und ohne Kitsch. Seine Stimme passte in den Duetten sehr harmonisch zu der Takalas und seine Arien waren von bezwingender Eindringlichkeit. Wie Wang die zarten Töne auf das Fundament des Orchesters auflegte, war beeindruckend. In der Höhe schien seine Stimme keine Grenzen zu kennen, blieb stets geschmeidig. Alles klang elegant und ohne Forcierung mit großem Atem gesungen. In den Ensembles brillierte er mit Durchschlagskraft. Zudem war Kang Wang ein ausgezeichneter, lebensechter Roméo-Darsteller und beeindruckte mit seiner Lauterkeit.

Bildeten die vier ausladenden Duette von Tuuli Takala und Kang Wang mit ihrer faszinierenden Wirkung das musikalische Fundament der Oper, so mussten Angehörige von den verfeindeten Familien der Julia Capulet und des Roméo Montague, deren Freunde, Bedienstete sowie einige zum Teil für den Handlungsverlauf nicht unwichtige Personen das Bühnengeschehen zuverlässig zusammenhalten. Das hohe Niveau des Ensembles des Hauses sicherte, dass überwiegend dessen Mitglieder mit diesen Partien die Premiere in ausgezeichneter Qualität vervollkommneten.

Als Freund und Vertrauter Roméos stellte sich Mercutio stets an dessen Seite, machte sich aber auch über dessen Launen und Hemmungen lustig. Mit seiner provozierenden „Ballade der Königin der Tränen Mab“ lieferte Danylo Matviienko einen Bariton, der eine wache Dynamik mit einer sicheren lyrischen Basis verband.

Vor der kämpferischen und letztlich tödlichen Auseinandersetzung von Tybalt und Mercutio, heizte die Mezzo-Sopranistin Valerie Eikhoff als Roméos Page Stéphano die Situation an. Mit einer beweglich-schillernden Stimme voller Ironie sowie brillanter Technik sang sie ein Spottlied und gestaltete so einen Musikalischen Höhepunkt der besonderen Art. Auch zur Familie der Montagues gehörte der Benvolio des koreanischen Tenors Jongwoo Hong, der leider zu wenig zu singen hatte

Das Familienoberhaupt der Capulet, vom Bass-Bariton Oleksandr Pushniak autoritär-patriarchisch als Machtmensch angelegt, konnte stimmkräftig ein hohes Selbstbewusstsein auf die Bühne bringen, bis ihm seine Selbstgewissheit zunehmend zerbröselte.

© Klaus Gigga

Als die Amme und Vertraute der Juliette Gertrude durfte die Mezzo-Sopranistin Michal Doron die warme, vibrierende Basis ihrer klangvollen Stimme leider nur in kurzen Sequenzen entfalten, konnte aber mit ihrer Bühnenpräsenz mehr Aufmerksamkeit einfangen.

Der US-amerikanische Gast-Tenor Brian Michael Moore entfaltete als Tybald wütend seine vibrierende Höhe, als er erkannte, dass der Feind seiner Familie Roméo wagte, Juliette zu begehren. Denn sie war dem von Gerrit Illenberger mit einer vollen offenen Stimme dargebotenem Paris zugesprochen gewesen. Blieb noch der mit dunkler, hämmernder Bariton-Stimme als finsterer Bediensteter der Capulets agierende Grégorio von Anton Beliaev.

Tilmann Rönnebeck wurde als Le Duc de Vérone, wie eine Amtsperson mit echter Autorität wahrgenommen, wenn er mit seinem gut artikulierten Bass versuchte, die verfeindeten Familien zur Vernunft zu bringen.

Mit seiner vokalen Kompetenz gestaltete Georg Zeppenfeld den recht weltlichen Priester Frère Laurent zu einem wichtigen Strippenzieher im Geschehen. Auch wenn er durch die Eheschließung die naive Hoffnung verband, die Familienfehde zu beenden. Vor allem kannte sich der Geistliche hervorragend mit den Wirkungen von Psychopharmaka aus. Mit samtig-sonorer Stimme demonstrierte er, wie man Juliettes Herzschlag und Atemfrequenz bis an die Grenze bis kurz vorm Versagen absenken konnte.

Der Frère Jean des Meinhardt Möbius, ansonsten stimmgewaltiger Bassbariton im Staatsopernchor, versagte bei der Brieftransformation an Roméo und komplettierte damit die Katastrophe.

Der präzise von Jan Hoffmann einstudierte Staatsopern-Chor war dank der ausgezeichneten Regiearbeit präsent wo notwendig, aber nie aufdringlich. Er klang edel und wunderbar melancholisch.

Großer Jubel für Sänger, Chor, Orchester und das Inszenierungsteam mit stehenden Ovationen.

Bleibt zu beobachten, ob die jüngeren Besucher sich mit der Inszenierung anfreunden, denn sie überschreitet mit ihren 190 Minuten-Dauer doch die vorherrschende Aufmerksamkeitsspanne.

Thomas Thielemann 4. Mail 2025


Roméo et Juliette
Charles Gounod

Semperoper Dresden

Premiere am 3. Mai 2025

Inszenierung: Barbara Wysocka
Musikalische Leitung: Robert Jindra
Sächsische Staatskapelle Dresden