Georges Bizet gilt, man kann es nicht oft genug sagen, trotz seiner anderen wunderbaren Opern als One-Work-Composer. Seltsam, da doch jede gute Aufführung, zumal der Perlenfischer den Opernfreund davon überzeugen müsste, dass es neben der unvergleichlichen Carmen noch andere unvergleichliche Meisterwerke des Jung-Genies zu geben scheint.
Nein, es liegt sicher nicht am Textbuch, dass das Werk des 24jährigen so selten auf unseren Bühnen erscheint, auch wenn die Librettisten von ihrem eigenen Stoff nicht überzeugt waren. Eugène Cormon soll nach der Uraufführung eine hübsche Bemerkung gemacht haben: „Hätten wir gewusst, wie viel Talent Monsieur Bizet besitzt, hätten wir ihm nie diesen infamen Theaterschinken zur Bearbeitung vorgesetzt.“ Zugegeben: Winton Dean, einer der besten und strengsten Bizet-Biographen und -Kritiker, hat in seiner Biografie des früh verstorbenen Meisters geschrieben, dass einzelne Elemente dieser Dreiecksgeschichte zwischen einer schönen Frau und zwei Verliebten doch arg nach einem „billigen Hollywood-Film“ rieche. Christoph Schwandt sah den Fall in seiner Rowohlt-Monographie etwas freundlicher: die Geschichte enthalte genügend Hohlräume, in die Bizet seine Musik gießen konnte. Die Perlenfischer gehören dem Genre der Opéra Lyrique an, das durch Charles Gounod zu einem haltbaren Höhepunkt geführt worden war. Sein Faust war stilbildend. Von diesem Geist sind auch Die Perlenfischer, die 1863 am Théâtre-Lyrique uraufgeführt wurden, gut zwei Jahre, nachdem Wagner mit seinem Tannhäuser an der Opéra vorerst Schiffbruch erlitten hatte. Dass auch Bizet zu sehr auf Wagners Spuren gewandelt sei: dieser Vorwurf der zeitgenössischen Kritiker gehört zu den Merkwürdigkeiten der Rezeptionsgeschichte des Werks; mag sein, dass diese Assoziation der Leitmelodie, die der Leila zugeordnet ist, zu verdanken war. Heutigen Hörern des Werks muss dieser Vorwurf unsinnig erscheinen, und dies nicht nur, weil das Stück in einem Phantasie-Ceylon vor sich geht. Ursprünglich sollte die Handlung noch in Mexiko spielen, was nur belegt, dass die Schauplätze austauschbar sind, die die Librettisten da erfunden hatten. Zwar gibt es keine unmittelbare Vorlage zu den Pêcheurs de perles, doch darf man sowohl den Zeitgeist als auch Spontinis Vestalin wie Bellinis Norma mit ihren Priesterinnen im Hintergrund sehen. Zudem hatte Félicien David, einer der anerkannten, wenngleich heute so gut wie vergessenen Meister der Epoche, mit La perle du Bresil seinen Beitrag zum Genre der exotischen Oper geliefert.

„Leila“, so lautete der ursprüngliche Titel der Perlenfischer, in denen es um die exotische Schönheit gleichen Namens geht. Wir befinden uns unter ceylonesischen Perlenfischern, die gerade eine Priesterin wählen. Sie hat die wichtige Aufgabe, durch ihren Gesang die Wassergeister zu bannen, die die Insel bedrohen. Zufällig treffen sich die beiden Freunde Nadir und Zurga – der königliche Anführer der Perlenfischer –, die sich lange nicht gesehen haben. Sie ahnen nicht, dass Leila die Frau ist, in die sie beide einmal verliebt waren. Damals zogen sie die Freundschaft ihrer Liebe vor. Kurz bevor Leila nun zur Priesterin geweiht wird, erkennt sie Nadir. Großes Liebesduett, aber Leila schwört vor dem Oberpriester des Brahma, bei Androhung der Todesstrafe immer keusch zu bleiben. Natürlich kommt´s, wie´s kommen muss: die Liebe ist stärker, die beiden werden von Zurga ertappt und sollen vor dem schreienden Volk hingerichtet werden, doch bevor es dazu kommen kann, entdeckt Zurga, dass Leila einst unerkannt sein Leben gerettet hatte. So befreit er, indem er ein panikverursachendes Feuer entfacht, die beiden Liebenden, die in die Ferne ziehen, und der treue Zurga bleibt traurig zurück.
Bizet hat diesen Stoff mit einer durch und durch farbigen Musik versehen, die das melodische Vorbild Charles Gounods nicht verleugnet. Ihm gelangen dabei Nummern, die zu wirklichen „Schlagern“ wurden. Natürlich kann man mit den Kritikern bedauern, dass die Personenzeichnung psychologisch wenig profiliert ist, dass die Ceylonesen keine Ceylonesen sind und die Dramaturgie zu sehr auf Zufällen beruht, als dass sie überzeugend wäre. Statt Konfliktentwicklung: mehr oder weniger zupackende Situationen. Mag sein, dass die Einwände stimmen – aber die musikalische Qualität ist auch jenseits der „Ohrwürmer“ nicht die schlechteste. Auffallend sind die sparsamen exotischen Stellen, in denen es dem Komponisten gelingt, mit einem fremdartigen, arabisierenden Melisma und einer spezifischen Instrumentation ferne Welten zu imaginieren. Freilich kam es Bizet nicht nur auf äußerlichen Exotismus an, wie ihn David geübt hatte. Rhythmische und harmonische Exotismen dienen hier auch dazu, den szenischen Raum und die dramatische Situation schärfer zu stellen. Vereinzelt tauchen Wendungen auf, die auf den Komponisten der Carmen verweisen. Es sind jene Passagen einer rezitativischen Melodik, die so typisch sind für den reifen Bizet: eine Art der Musikalisierung des Dramas, die souverän zwischen der Melodie und der Handlung vermittelt. Dass ausgerechnet Hector Berlioz die seinerzeit eher verachtete Partitur lobte, verwundert also nicht. Er dürfte all jene Elemente in ihr erkannt haben, die das Werk auch heute noch zu einem ausgesprochen schönen machen: in seiner dahinströmenden Melodik, seinen kammermusikalischen Höhepunkten (vom zauberhaften Vorspiel an), seinen rhythmischen Erregtheiten, seiner Expressivität und seinem exotistischen Kolorit. Mag sein, dass dem fremden Blick auf den verfälschten Orient etwas Kolonialistisches anhaftet. Das zweite Kaiserreich ist in diesem Sinn, mitsamt seiner vier Jahre später in Szene gesetzten Weltausstellung, auch in diesem Werk präsent. Entscheidender bleibt Bizets feinsinnige und doch bühnenwirksame Ansicht einiger Menschen, die durch seine Kunst in die Zeitlosigkeit des „Reinmenschlichen“ gehoben wurden. Dagegen sprechen auch nicht die reizenden Koloraturen der Leila, die ihrem Geliebten ein öffentliches Liebeslied singt. Gerade in den als Gesang gestalteten Gesangsnummern kommt das Werk zu sich. So blieb diese Oper eine Perle, die mit Recht von Zeit zu Zeit aus ihrer Muschel geholt wird.

Es gibt also genügend Gründe, das Werk auf eine Bühne zu bringen. In Hof tat man es im Bizet-Jahr, um die Frage, um was für einen „Orient“ (im 19. Jahrhundert war dies ein geographisch denkbar weit gefasster Begriff) es sich hier handelt. Bleiben wir zunächst beim Wesentlichen: den Sängern. In den Perlenfischern treten drei Hauptrollen und eine Nebenrolle, nicht zuletzt der Chor auf; das Werk ist auch eine Choroper. Dass sie nicht Leila oder Leila und Nadir heißt, ist so wenig ein Zufall wie die Tatsache, dass Wagner keinen Hans Sachs komponierte. Die Chorszenen klingen in Hof ganz wunderbar, denn der kleine Chor des Theaters Hof singt unter Ruben Hawer mit völliger Sicherheit. Nur ein Wort zur Akustik: wer das Glück hat, in der zweiten Reihe zu sitzen, hört die Sänger sehr gut, in der zehnten Reihe haben die Hofer Symphoniker schon ein ungutes Übergewicht, obwohl es von Peter Kattermann souverän geleitet wird. Die einzige weibliche Solo-Partie wird von Annina Olivia Battaglia gesungen – ihre Leila bezaubert durch einen Glockenton und eine legerezza, die für diese Partei unabdingbar ist. Nadir ist gleichwertig, weil Minseok Kim ihn singt, dessen lyrischer Tenor sich über die Jahre in eine schöne Höhe verwandelt hat; nicht allein sein berühmtes Solo „Je crois entendre encore“ – neben der Leitmelodie der „Göttin“, wie Anselm Gerhardt sie nannte, und dem Freundschaftsduett der Schlager der Oper – kommt entzückend subtil. Als Dritter im gestörten Bunde agiert der geschädigte Dritte, also der Zurga des Andrii Chakov, der über einen ausbaufähigen und leicht nasalen Bariton verfügt, um einen durchaus prägnanten, nicht übermäßig bassbaritonalen Anführer zu porträtieren.
Leider steht den einzig Wichtigen der Oper – den Sängern – an diesem Abend permanent ein Tänzer oder ein Tänzerpaar im Weg. Man kam in Hof auf die unglückselige Idee, immerzu und andauernd die Soli durch danseurs zu verdoppeln – ausgerechnet die Arien und Monologe, in denen die Aufmerksamkeit der zuhörenden Zuschauer ausschließlich auf den singenden Individuen liegen sollte. So aber zerstörte man durch überflüssiges und an diesen Stellen, pardon, reichlich kunstgewerbliches Doublieren die intime Poesie, die ja gerade dadurch entsteht, dass ein Nadir oder eine Leila allein sind und sein sollen. Das Publikum findet es, glaube ich, „nett“, der Kritiker aber ist über die optisch störenden Verbildlichungen dessen, was eindeutig hörbar ist, verstimmt – und dies auch, weil die Tänzer ihm den Blick auf den Sänger bisweilen buchstäblich verstellen. So etwas nennt man: vertanzt – als misstraute man Bizets unleugbar starker Musik und der Kraft, die von einem vokalen Solo auszugehen vermag. (NB: Kaum ein Sänger kann es sich offensichtlich leisten, gegen derartige Störungen sich zu wehren) Die wenigen Gruppentänze, auch von Barbara Buser choreografiert, haben ansonsten das Flair von unterhaltsam sein sollenden, leichten Tanzeinlagen, wie sie in Perlenfischer-Aufführungen üblich sind. Auch das ist „nett“, nichts weiter. Die Musik aber ist, abzüglich der choreographischen Störungen, vom ersten bis zum letzten Takt, im Lyrischen wie im Dramatischen, von erster Güte. Das Orchester „klingt“, es entbindet die Farben der vor einem halben Jahrhundert rekonstruierten Partitur und hat hörbar Spaß an den lustigen Flötentönen wie den sensitiven Streichern und Bläsern (die Violoncelli, die Hörnergruppe…).

Was dem Regisseur Andreas Wiedermann zum Stück einfiel, läuft auf eine Aktualisierung heraus, die konkret in den Jahren 2004 und 2005 angesiedelt ist. 2004: Das war das Jahr des Tsunamis in Sri Lanka, während noch der Bürgerkrieg tobte. Die Kernfrage lautet: Benötigen Die Perlenfischer eine genaue historische Einordnung, da die Handlung doch ebenso gut am Golf von Mexiko oder in vorchristlicher Zeit an der Ostsee spielen könnte? Im Prinzip nicht; die Dramaturgie, mag sie auch immer wieder als schwach kritisiert worden sein, ist als Liebesgeschichte konsistent genug. Vieles „funktioniert“ an diesem Abend, etwa die Verbindung von Öffentlichem und Persönlichem. Erfundene, doch aus dem Libretto ableitbare politische Motive (Nadir als wiederkehrender Soldat einer Bürgerkriegsseite) verschränken sich mit privaten (der Rückkehr zur Geliebten), am Ende werden Leila und Nadir, die dank Zurgas Selbstopfer fliehen konnten (man sieht sie noch in ihrer zärtlichen Zweisamkeit), denn doch von den Gegnern ermordet. Man sieht es schon vor dem Finale, weil der Regisseur der Meinung ist, dass durch Umstellungen der Chronologie die Geschichte „interessanter“ wäre. Die Meinung ist ungefähr so überzeugend wie jene, die davon ausgeht, dass Der Freischütz unverständlich sei und nur durch eine radikale Umstellung der Szenen und der Musik Sinn in die Sache käme (dies meine Erinnerung an eine der dümmsten und scheußlichsten Freischütz-Inszenierungen der jüngeren Operngeschichte, 2012 in Erfurt) – aber die durch Projektionen angezeigten zeitlichen Verschiebungen funktionieren tatsächlich. Denn in Zeiten des Bürgerkriegs, dem ca. 80000 bis 100000 Menschen zum Opfer fielen, kommt das Überleben eines Liebespaars auf der Opernbühne einer Utopie gleich, die durch Bizets Musik nicht mehr gedeckt werden kann. So schauen wir in Hof am Ende auf ein lieto fine – zumindest auf ein „glückliches Ende“ für die Liebenden –, während ihr Retter sich, den Tod durch die vom (natürlich blinden: Vorsichtig Symbolik!) „Oberpriester“ Nourabad angestachelten Dorfbewohner im Auge, mit Benzin übergießt und kurz nach dem Fallen des Vorhangs brennen wird.

So gewinnt der Stoff einen Realismus, dem von der Musik, alles in allem, nicht widersprochen wird. Ob die rituelle Berufung und Tötung einer aus einem archaischen Institut stammenden „Priesterin“, wie sie in Norma und La Vestale historisch völlig korrekt dargestellt wird, zur Besänftigung des Meeres zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch realistisch ist, dürfte bezweifelt werden. An dieser Stelle wackelt das Konstrukt, aber wichtiger ist denn doch die Liebe in Zeiten des Krieges – und Gewalt herrscht ja schon im Libretto von Eugène Cormon und Michel Carré. Im Übrigen ist Oper niemals realistisch.
Hinzu kommt das Motiv der Homosexualität: Zurga will deshalb zunächst Leila und Nadir töten, weil der Freund, den er liebt, ihn aufgrund einer Frau verraten hat. Die Regie muss nicht viel machen, um aus dem latenten Motiv ein virulentes zu machen, auch wenn die Übertitel hier expliziter scheinen als der Originaltext: „Son crime est d’etre aimé quand je ne suis pas!“ – „Sein Verbrechen ist es, geliebt zu werden, wenn ich es nicht bin“, ruft Zurga im Streit mit Leila aus, doch ist das Objekt wirklich Leila? Die Sache bleibt, es ist reizvoll, zumindest zweideutig und erklärt manch dramaturgische Wendung. Wie gesagt: Die Geschichte würde, vor den von Aylin Kaip entworfenen sechs stilisierten und angerosteten Meereswellen, auch ohne den Bezug auf die Naturkatastrophe und den Krieg verständlich sein. Die Hauptsache bleiben eh die Sänger – dass sie an diesem Abend nicht immer im Mittelpunkt stehen, ist bedauerlich, aber dem Theater Hof ist eine en detail nicht immer stimmige, doch insgesamt gute Aufführung eines frühen Meisterwerks des Komponisten der Djamileh, der Perlenfischer und der Carmen gelungen: vor Allem dank Battaglia, Kim, dem Opernchor und den Hofer Symphonikern.
Also langer, herzlicher Beifall.
Frank Piontek, 7. Juli 2025
Die Perlenfischer
Georges Bizet
Theater Hof
6. Juli 2025
Premiere am 21. Juni 2025
Musikalische Leitung: Ruben Hawer
Inszenierung: Andreas Wiedermann
Hofer Symphoniker