Pilsen: „Julietta oder Das Traumbuch“, Bohuslav Martinů

© Martina Root

Wer oder was ist Juliette? Eine „Schnepfe“, auf die der Jäger (angeblich) geschossen hat? Schon möglich. Eine Traumfantasie der einzigen Figur, mit der sich der Zuschauer identifizieren könnte? Mag sein. Eine kollektive Männerfantasie? Eher unwahrscheinlich, auch wenn manch Regisseurin dies behaupten mag. Eine (Alb-)Traumfrau? Auf jeden Fall.

Bohuslav Martinů schuf mit seiner Julietta eines seiner wenigen (von sehr vielen) Bühnenwerken, die bei uns neben der Griechischen Passion so etwas wie eine Popularität im Randbereich des Repertoires errungen haben. Basierend auf dem surrealistischen Theaterstück Juliette ou La clé des songes von Georges Neveux, dessen Text der Komponist wortgetreu, wenn auch gekürzt, vertonte, bietet die Oper vielfältige Gestaltungs- und Interpretationsmöglichkeiten. Wo es um das Vergessen (ausnahmslos alle Figuren des Werks bis auf den traurigen Helden scheinen innerhalb von zehn Minuten die letzten Ereignisse und Gedanken zu vergessen) und die Sehnsucht nach einer Geliebten geht, die sich permanent entzieht oder, wenn sie auftaucht, schwindelt, weil sie nichts dabei findet, ihre Erinnerungen bei einem Erinnerungsverkäufer zu kaufen, hat es der Zuschauer mit einer realeren Welt zu tun, als es der Begriff des Surrealismus zunächst suggeriert. Denn jeder Surrealismus muss mit der Wirklichkeit arbeiten, um überhaupt wirksam zu werden.

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Die Handlung, die in Kürze nachzuerzählen unmöglich ist, dreht sich um den Buchhändler Michel, der nach drei Jahren in eine Hafenstadt (falls es dort wirklich Schiffe und Kapitäne gibt) zurückkehrt, in der er damals eine junge Frau an einem Fenster zauberhaft singen hörte. Er möchte sie wiedersehen und seinen Traum verwirklichen – doch niemand in der seltsamen Stadt ist eine konsistente Persönlichkeit, auch nicht die Frau, die (angeblich) Juliette heißt und sich jetzt an eine gemeinsame „romantische“ Vergangenheit erinnert und kurze darauf den Fremden verhöhnt. Von hier zu Alain Resnais’ Filmklassiker Letztes Jahr in Marienbad ist es nicht mehr weit.

Michel irrt also ein wenig wie ein taumelnder Tor durch die Stadt, in der nichts sicher zu sein scheint, um zuletzt, nachdem er, so glaubt er, Juliette niedergeschossen hat, in einem Traumbüro zu landen – doch ist er selbst in einem der Träume gefangen, die dort angeboten werden? Man erfährt es nicht, erfährt auch nicht, wie die Geschichte weitergehen könnte, die schließlich genau dort von Neuem zu beginnen scheint, wo sie anfing. Das Spiel könnte von vorn beginnen: mit anderen Persönlichkeitswandlungen und Vergessenheitsdelirien. Martinů selbst sprach davon, dass es darauf ankomme, seine Erinnerungen zu bewahren – in der Pilsener Inszenierung spielen die Erinnerungen und das, was zwischen Traum und Wirklichkeit beständig changiert, in einem von Daniel Dvořák entworfenen Kunstraum, der die Elemente der Entstehungszeit der Oper, auch im Kostümbild (Dana Haklová) auf vordergründig-naive wie eindrückliche Weise zitiert.

© Martina Root

Kommt Digitales ins Spiel, erweitert sich der Raum ins Heute; Videoprojektionen (von Ondřej Brýna) auf den vier schräggestellten Wänden, deren sichtbare Ränder an Kopfprofile, damit direkt, quasi als Hommage, an eines der Fischerhäuser im Bühnenbild der Prager Uraufführung von 1938 erinnern, spielen auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart an; im dritten Akt, dem Traumbüro-Bild mit seinem Sternenhimmel, machen die Riesenaugen aus den Wänden dann eindeutige Profile. Eben Surrealismus pur. Surreal ist auch die Gestalt der Juliette, deren rückseitige Schalllöcher auf ihrem teils nackten Rücken überdeutlich an Man Rays berühmtes Foto Die Violine von Ingres erinnern – bei Martinů hören wir zu Beginn des 2. Akts eine Kantilene des Violoncellos, das im Film von Juliette, in einem sehr gelben Kunstraum, gespielt wird. Eine Vision, was sonst, denn finalmente verschwindet ihre Stimme, die Tontechnik macht’s möglich, irgendwo im Surround-Raum, um Michel einsam und verwirrt zurückzulassen.

Martinůs Julietta ist ein denkbar vielfältiges Werk, dessen Rätsel vom Regisseur Martin Otava nicht rational (was möglich, aber sinnloser wäre als das Werk selbst), sondern in surrealen Bildern poetisch präsentiert werden: von einem gläsernen, einem Sarg ähnelnden Klavier mit eingelegten Blumen, auf dem der Held eine konzertante Szene begleitet, über Möwenattrappen, verfremdeten Kostümen, einem (ein coup!) mit auf seinem Fahrrad durch die Luft fahrenden Postboten und einem videomäßig durchrauschenden Zug zu den Wesen mit den grauen Kitteln, die als gruselige Schemenbilder wie als durchlaufende Gruppe für einen neuen Ton sorgen. Apropos Ton: Martinůs Partitur überrascht immer wieder durch neue Stimmungen: zwischen harten Attacken, polyphonen Sätzen, lyrischen Emphasen und deklamatorischen Strecken; die Tonalität wird grundsätzlich gewahrt, wenn auch – siehe Jánacek – an ihre Grenzen geführt. In summa klingt Juliette, darauf kommt es an, einfach spannend und kurzweilig, farbig und unterhaltsam. In Pilsen spielt das Orchester des DJKT unter Jiří Štrunc die Attraktivitäten der Partitur, auch mit einem fleißig eingesetzten Soloklavier, kraftvoll heraus. Die Titelpartie wird von Soňa Godarská gesungen; sie macht es apart, einfühlsam in die teils erregte, teils sanftmütige Rolle, nur am Ende des ersten Akts ist ihr Mezzo etwas zu leise. Michel ist Richard Samek; er singt zwar nicht pausenlos, steht aber drei Akte lang fast ununterbrochen auf der Bühne, so dass sein Tenor stark beansprucht wird, ohne dass er es, deklamatorisch sicher und lyrisch bis zum Schluss souverän, merken ließe. Das Ensemble hat in den diversen Rollen mehrfach zu tun: Andrea Fridová glänzt in den wichtigen weiblichen Nebenrollen, als junger Araber, Page und alte Dame, durch ihren glockenhellen wie runden Mezzosopran, der Alt Jana Piorecká insbesondere als Handleserin, ganz im Stil der 30er Jahre, als schicke bestrapste Frau im violetten Frack, die drei riesige Tarotkarten, natürlich mit dem Gehängten, dem Tod und dem Teufel, von den Soffitten auf die Bühne zaubert. Jiří Kubik, Andrij Charlamov, Jakub Hliněnský, Martin Švimberský, so heißen, neben dem wie immer ausgezeichneten, diesmal aus elf Damen formierten Chor des Tyl-Theaters, die anderen Mehrfachsänger aus dem wie üblich guten Pilsener Ensemble, die mit der gleichfalls gewohnten Pilsener Spiellust und vokalen Kompetenz ein musikalisch und thematisch faszinierendes Stück zum Leben erwecken, das zweifellos häufigere Aufführungen verdient. Dies war, ein knappes Jahr nach der Premiere, leider schon die letzte.

Also: Wer oder was ist Juliette? Eine spannende Oper, die in Pilsen sehr animierend, also traumhaft gut realisiert wurde.

Frank Piontek, 31. Mai 2025


Julietta
Bohulslav Martinů

Divadlo J.K. Tyl, Pilsen

Premiere: 24. Juni 2024
Besuchte Aufführung: 30. Mai 2025

Regie: Martin Otava
Dirigat: Jiri Strunc
Orchester des DJKT