Wien: „Ambleto“, Francesco Gasparini (zweite Kritik)

© Herwig Prammer

Im frühen 18. Jahrhundert hat der italienische Barockkomponist Francesco Gasparini (1661-1727) eine „Hamlet“-Oper nach einem Libretto von Apostolo Zeno und Pietro Pariati komponiert, die Shakespeares „Hamlet“ mangels vorhandener Übersetzung noch gar nicht kannten. Ihre Handlung ist noch blutrünstiger und weicht von der Shakespeares deutlich ab, wobei sich beide der Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, einer um 1200 geschriebenen Chronik der Geschichte Dänemarks, bedienten. Uraufgeführt wurde diese opera seria in der Faschingssaison 1705/06 am Teatro San Cassiano in Venedig. In der Titalpartie reüssierte der Kastrat Niccolini, der diese Oper mit nach London nahm, wo sie 1712 am Queen’s Theatre zur Aufführung gelangte. Die Libretti der Venediger- und der Londoner Aufführung sind vorhanden, nicht aber das Notenmaterial, abgesehen von einem Großteil der in London verwendeten Arien. Anstelle der verloren gegangenen Musik zu den Rezitativen, hört das Publikum eingespielte Texte aus Shakespeares Hamlet und auch die Namen der vom dänischen Originaltext inspirierten Personen wurden durch die allseits bekannten des großen Engländers ersetzt. Regisseurin Ilaria Lanzino legt den Fokus ganz auf die Familientragödie, an deren Ende alle, bis auf Hamlets Mutter Gertrude tot sind. Die Aufführung beginnt mit der Schlussszene, in der die blutüberströmte Ophelia in der Badewanne liegend, ähnlich drapiert wie in Jacques-Louis Davids Gemälde „Der Tod des Marat“ (1793), einen gellenden Schrei ausstößt. Danach wird ein Insert, “3 Wochen früher“, eingeblendet bevor sich die Ouvertüre im „französischen Stil“ mit langsamer Einleitung und raschem Fugato entfaltet. Das Geschehen entrollt sich sodann im Haus von Gertrude und Claudius, einer, so legen die eleganten Kostüme von Vanessa Rust nahe, wohlhabenden Familie von heute. Martin Hickmann stellte dafür ein ganzes Haus, in dem der rechte Winkel als Maß aller Dinge vorherrscht, mit verschiedenen Stockwerken und Schauplätzen in der Durchsicht auf die Drehbühne.

© Herwig Prammer

Da Hamlets Mutter Gertrude so rasch nach dem Tod des Vaters dessen Bruder Claudius geheiratet hat, bricht in Hamlet ein rasant steigernder Wahnsinn aus, den Ophelia, indem sie ihn ersticht und dadurch von seinen seelischen Qualen befreit. Hamlet erscheint bei näherer Betrachtung wie ein Pendant von Elektra. Er muss sogar mitansehen, wie seine Mutter Claudius felliert. Die Musik wird vom Ensemble La Lira di Orfeo unter der Konzertmeisterin Elisa Citterio spannend dargeboten. Raffaele Pe, Gründer des Ensembles, war in der Titelrolle ein höhensicherer Countertenor mit expressiver Darstellungskraft. Maayan Licht, der zweite Countertenor des Abends, war in der Rolle von Ophelias Bruder Laertes noch eine Spur exzentrischer, was seinen Niederschlag auch in einer angedeuteten inzestuösen Beziehung zu seiner Schwester fand. Gesanglich gesehen vielleicht sogar noch eine Spur eindrucksvoller als Pe. Die beiden Damen beeindruckten mit ihren starken Persönlichkeiten: die russisch-amerikanische Sopranistin Erika Baikoff als Ophelia mit messerscharfem Sopran und die in Rumänien geborene Sopranistin Ana Maria Labin als deren Mutter Gertrude mit ihrer warmen, fast mütterlichen Stimme. Miklós Sebestyén hielt für den Claudius seinen sonoren Bass bereit und der belarussische Bariton Nikolay Borchev in der Rolle des um seine Tochter Ophelia äußerst besorgten Vaters Polonius, der zu Hamlets erstem Todesopfer in dessen Rachespirale mutiert.

© Herwig Prammer

Am Ende gab es für alle Beteiligten großzügigen Applaus und Standing Ovation für die beiden Countertenöre und die beiden Damen.

Harald Lacina, 18. Mai 2025


Ambleto
Francesco Gasparini

MusikTheater an der Wien

Premiere: 6. Mai 2025

InszenierungIlario Lanzino
Musikalische Leitung: Raffaele Pe
La Lira di Orfeo