Hamburg: „Die Frau ohne Schatten“

Vorstellung am 16.04.2017

Gesanglich und musikalisch perfekt

TRAILER

Das ist ja mal ein interessanter Ansatz, die symbolbefrachtete Märchenoper DIE FRAU OHNE SCHATTEN ganz aus der Perspektive der "zweiten" Frau zu erzählen, der Färberin. Genau dies tut Regisseur Andreas Kriegenburg im beeindruckenden Bühnenbild von Harald B. Thor und mit den wunderbar luftigen, asiatisch angehauchten Kostümen von Andrea Schraad (für die Ebene der Geisterwelt mit Kaiser und Kaiserin) in dieser Neuproduktion an der Staatsoper Hamburg, die gestern Abend ihre zu Recht umjubelte Premiere feiern durfte.

Bei Kriegenburg beginnt die Oper nicht mit dem wuchtigen Keikobad-Motiv des Orchesters, sondern wir sehen die Färberin auf die Bühne taumeln, die Worte " Zu viel, zu viel – nimm mich fort von hier" flüstern. Sie besteigt quasi die Ebene des Geisterreichs im Traum – und alles, was nun kommt, ist eigentlich ein Traum (und manchmal auch nur ein Tagtraum) der Färberin. Oft sind im Verlauf des Abends die Figuren der Kaiserin und der Färberin verdoppelt, die Färberin sieht sich also quasi selbst in der Handlung, spürt ihren seelischen Zerfall, ihr unglückliches Dasein in der ärmlichen Umgebung mit ihrem braven, arbeitsamen Mann Barak, der ihr nicht das geben kann, wonach ihre Seele und ihr Leib dürsten. Der Regisseur zeigt dabei die Parallelen zwischen dem Befinden der Färberin und der Kaiserin deutlich auf: Beide sind sie immer wieder verhaftet in einem Leben, das sie nicht selbst gewählt haben und flüchten in Traumwelten – Sigmund Freuds Einsichten in die weibliche Hysterie werden an diesen beiden Figuren abgearbeitet.

Beide sind sie kinderlos, die Färberin und die Kaiserin, und trotz aller Umstände lieben sie ihre Männer, die Färberin vielleicht noch mehr als die Kaiserin. Das Schöne bei Kriegenburgs Inszenierung ist, dass er die Geschichte durch diese neue Perspektive mit der träumenden Färberin nicht kaputt oder unverständlich macht, im Gegenteil. Auch hier kommt es zur reinigenden Katharsis des Traums (ganz ähnlich wie bei Claus Guths Inszenierung, die vor einer Woche in Berlin Premiere hatte und vor fünf Jahren in Mailand zu sehen gewesen war, nur ist dort alles aus der Traumsicht der Kaiserin erzählt). Im Halbrund des eindrücklichen Bühnenbaus von Harald B. Thor – mit dem gigantischen Stangenwald und der Wendeltreppe, welche die Durchlässigkeit zwischen den beiden Welten ermöglicht, den beiden Ebenen der Menschen- und der Geisterwelt (das ist dann schon sehr beeindruckend, wenn das gesamte Bühnenbild hoch- oder niederfährt, um eine neue Spielfläche zu erschliessen) und den wunderschönen, stimmungsvollen Lichteffekten von Stefan Bolliger – lässt der Regisseur mit sparsamer Personenführung agieren, man könnte das abwertend als Rampengesang bezeichnen.

Aber mir ist das allemal lieber, als aufgesetztes, hysterisches Herumgewusel. So kann man sich auf den Text und die Musik konzentrieren und wird nicht durch verkopfte Regiemätzchen abgelenkt. Einzig die Aktschlüsse II und III sind etwas missraten. Im zweiten Akt, wo am Ende die Übermächte im Spiel sind und alles auseinander fallen sollte, passiert bei Kriegenburg gar nichts. Und der von Hofmannsthal und Strauss so idyllisch angelegte Schluss wird hier ohne doppelten Boden inszeniert, mit Ball spielenden Kindern in bunten T-Shirts. Das ist Kitsch pur und unerträglich bieder. Kann ja sein, dass er das Ende immer noch als Traum der Färberin gesehen hat, die sich die bürgerlich heile Welt nur imaginiert, doch wenn es so gemeint war, dann wurde das zu wenig deutlich.

Aber nichtsdestotrotz – szenisch ein bemerkenswerter Abend, bei dem man sogar die etwas ausgelutschten Symbole des Rollstuhls und des Krankenhausbettes aus der Nervenheilanstalt gerne in Kauf nimmt.

Das musikalische Glanzlicht setzten das Philharmonische Staatsorchester Hamburg und sein Chefdirigent Kent Nagano. So berührend, so kammermusikalisch fein durchgearbeitet, so subtil Akzente setzend, hat man Strauss Partitur noch selten erleben dürfen. Nagano verzichtete auf dynamische Exzesse, das war alles sehr ruhig, mit wunderbar herausgearbeiteten Kantilenen, mit einer gehaltenen Spannung sondergleichen. Das Orchester spielte mit einer berückenden Transparenz, herausragende solistische Einsätze wechselten mit opulentem, aber nie dick pastosem, Gesamtklang. Ein grandioses Erlebnis, nicht nur für die Zuhörer im Saal, auch die Sängerinnen und Sänger profitierten von diesem filigranen Zugang zu Strauss‘ Meisterwerk, denn nicht weniger als vier Rollendebüts in den Hauptpartien waren angesetzt.

Lise Lindstrom war eine blendend aussehende, glaubhaft agierende Färberin. Sie war wie eine Farah Fawcett in Lumpenkleidung! Ihre Stimme war sehr präsent, sie brauchte nie zu forcieren. Von der Farbpalette und den dynamischen Abstufungen her vielleicht noch eine Spur zu eindimensional, doch wenn man bei "Welt in der Welt" Gänsehaut kriegt, ist alles gut! Auch Barak, ihr Mann (der einzige neben dem nicht auftretenden Keikobad, der einen Namen trägt in dieser Oper) wurde von einem Debütanten gesungen: Andrzej Dobber. Der weltweit vor allem für seine Interpretationen von Verdis Bariton Rollen gefeierte Sänger erfüllte diese dankbare Rolle mit fantastischem Wohlklang, warmer, rund und sonor geführter Stimme, mit einer Eindringlichkeit, für die er am Ende auch den größten Jubel des Publikums für sich beanspruchen durfte. Wann hat man je das "Fürchte dich nicht" dermassen schön und rein gehört?

Linda Watson, einst eine gefeierte Färberin, ist nun ins Mezzofach zurückgekehrt und sang eine wunderbar gestaltete Amme, und ja, sie sang und keifte nicht, war von der Regie her nicht ganz so dämonisch angelegt, wie man es gewohnt ist – aber es ist immer gut, Seh – und Hörgewohnheiten zu hinterfragen. Ihr "Her zu mir" am Schluss des zweiten Aktes liess einem kalte Schauer über den Rücken jagen. Das vierte Rollendebüt gab Bogdan Baciu als Geisterbote: Bei seinem ersten Auftritt schien er noch etwas unter der Premierennervosität zu leiden, doch im dritten Akt strömte sein markanter Bariton dann herrlich. Versierte und bewährte Interpreten ihrer Partien sind Emily Magee und Roberto Saccà als Kaiserin und Kaiser. Emily Magee (mit den langen weissen Haaren sah sie aus wie Dame Gwyneth Jones) meisterte die schwierige "Vogel-Koloratur" des ersten Auftritts hervorragend, gestaltete die Erwachensszene des zweiten Aktes mit fiebriger Intensität und der dritte Akt, der ganz ihr gehört, war von zu Tränen rührender Eindringlichkeit ("Vater bist du’s") mit ihrer Wandlung zur Empathie empfindenden gereiften Frau, ihrem Abschied aus der Geisterwelt und dem Hinfinden zum Menschsein.

Roberto Saccà sang den Kaiser mit beinahe liedhafter Gestaltung. Das alles war sehr zurückhaltend, kontrolliert und zum genauen Zuhören auffordernd, nie forciert die hohe Tessitura attackierend. Und doch, etwas mehr an heldisch glänzendem Aplomb hätten die beiden grossen Szenen des Kaisers und das Finale durchaus ertragen, vor allem weil Dobbers gewaltige Stimme Saccàs zarten Tenor in diesm Finale dann doch zu erdrücken drohte und die vokale Klangbalance ins Wanken geriet. Ausgezeichnet war Gabriele Rossmanith als Falke und vor allem als Hüter der Schwelle des Tempels – herrlich klar und rein! Imponierend auch Martha Świderska als Stimme von oben, sehr gut Baraks Brüder (Alexey Bogdanchikov, Markus Nykänen und Bruno Vargas). Alex Kim sang die Erscheinung des Jünglings (beim letzten Auftritt von den roten Pfeilen des Kaisers durchbohrt wie der Heilige Sebastian) mit einnehmend gefärbter Tenorstimme. Die Wächterstimmen aus dem Off am Ende des ersten Aktes, klangen zwar eindringlich, doch nicht allzu balsamisch. Diese Szene verfehlt aber ihre Wirkung nur selten – selten ist jedoch, dass es danach einige Sekunden der absoluten Stille im Saal gab, bevor der Applaus einsetzte. Das wünschte man sich öfter mal. Leider war das am Ende des letzten Aktes nicht mehr der Fall, einige Zuschauer klatschten laut los, bevor noch die letzten Akkorde gespielt worden waren. Doch der nachfolgende Jubel des Premierenpublikums für alle Beteiligten war verdient.

Bilder (c) Brinkhoff/Mögenburg / Staatsoper Hamburg

Kaspar Sannemann 20.4.2017