Hamburg: „Die Nase“

Premiere am 07.09.2019, besuchte Aufführung am 13.09.2019

Karin Beier hat den richtigen Riecher

Der Kollegienassessor Kowaljow wacht eines Morgens ohne seine Nase auf. Auf der Suche nach seinem Riechorgan, das sich inzwischen verselbständigt hat, auf menschliche Größe angewachsen ist und sich als Staatsrat ausgibt, durchlebt Kowaljow albtraumhafte Situationen, bevor die Nase plötzlich an ihren angestammten Platz zurückkehrt. Die Vorlage zu dieser grotesken Geschichte stammt aus Nikolai Gogols Novelle Die Nase. Sie gilt als erstes surrealistisches Prosastück der russischen Literatur.

Dmitri Schostakowitsch begann 1927 im Alter von 21 Jahren mit der Arbeit an seiner gleichnamigen Oper, die dann 1930 in Leningrad uraufgeführt und nach nur sechzehn Vorstellungen abgesetzt wurde. Nicht ohne Grund: Obwohl das Werk eigentlich im zaristischen Russland spielt, ist die satirische Auseinandersetzung mit einem totalitären Polizeistaat unübersehbar. Das konnte Stalin nicht gefallen. Ein damaliger Kritiker schrieb, Schostakowitsch komponiere wie ein „Anarchist mit Handgranate“. Nach Stalins Tod sagte Schostakowitsch über sein Werk: „Die Figur der Nase hat gar nichts komisches. Die Nase kann ohne dich zu einem Menschen werden, noch dazu zu einem hohen Vorgesetzten. Hätte Gogol zu unserer Zeit gelebt, er hätte noch viel seltsamere Dinge gesehen. Heute spazieren so viele Nasen umher, dass man sich nur wundern kann.“

Diese Sätze machen deutlich, wie aktuell „Die Nase“ auch in unserer Zeit noch ist. Man braucht sich nur unter dem derzeitigen politischen Personal weltweit umzusehen.

Regisseurin Karin Beier, derzeitig Intendantin des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, verlegt „Die Nase“ aus der Zaren- in die Stalin-Zeit, schlägt aber mit Videos (Maika Dresenkamp und Severin Renke) vom G-20-Gipfel auch die Brücke zur Tagesaktualität. Nach längerer Pause (seit 2006) ist es Beier, die 1997 mit „Carmen“ in Bremen erstmalig eine Oper inszeniert hatte, mit ihrem erneuten Engagement für das Musiktheater gelungen, eine gleichermaßen beklemmende wie unterhaltsame Arbeit vorzulegen. Ihre Regie ist detailfreudig, sehr exakt gearbeitet und äußerst temporeich. Daran hat auch die Choreographin Altea Garrida gehörigen Anteil. Wie sie Polizisten und Soldaten (alle mit Stalinbärtchen und dickem Hintern) als Parodie auf Militärparaden über die Bühne im Stechschritt oder grotesk tänzeln lässt, ist nicht nur komisch, sondern auch entlarvend.

Ein riesiger Rasierspiegel beherrscht das Bühnenbild von Stéphane Laimé und verdeutlicht die permanente Überwachung. Ansonsten rotiert die Drehbühne mit ihren Gerüsten und Spiegelwänden fast pausenlos, aber stets im Einklang mit der teils grellen, immer unter Volldampf stehenden Musik von Schostakowitsch. Mit einem kleinen gesprochenen Einschub („Liebe Nasen von nah und fern“), bei dem der Polizeichef unbeholfen dümmliche Verschwörungstheorien herausblökt, kommt die Schauspielregisseurin durch.

Als Kowaljow hat Bariton Bo Skovhus gesanglich und darstellerisch einen großen Abend. Mit seinem Schweinchenrüssel, den er sich als Ersatz für seine Nase angeklebt hat, mit seiner Mischung aus entschlossener Aktion und lethargischem Gejammer kann er die Hilflosigkeit und Verzweiflung der Figur überzeugend verdeutlichen. In weiteren Partien sind u. a. Andreas Conrad als Polizeihauptmeister, Levente Páll als Barbier, Gideon Poppe als Kowaljows Diener, Hellen Kwon als Finderin der Nase oder Athanasia Zöhrer mit ihrem Sopransolo zu nennen.

Die Musik von Schostakowitsch wird vom Philharmonischen Staatsorchester unter Kent Nagano glänzend umgesetzt. Da kommt der pausenlose Drive der Musik brilliant zur Geltung, kommen die Marsch- und Polka-Parodien zu effektvoller Wirkung. Sonderbeifall gibt es für die Schlagzeugparaphrase, bei der sich die Schlagwerker auf der Bühne aufreihen und ein wahres Feuerwerk abbrennen.

Wolfgang Denker, 14.09.2019

Fotos von Arno Declair