Hamburg: „Simon Boccanegra“, Giuseppe Verdi

Müssen es immer die Verdi-Opern mit den bekannten Hits sein, die auf den Spielplänen der großen Häuser stehen? Und vor allem – muß immer ein Stück im Dreiviertaltakt die auch noch so dramatischen Szenen musikalisch untermalen? Im Melodramma „Simon Boccanegra“ bietet Verdi genau das Gegenteil – wunderschöne, leidenschaftliche, mitreißende Musik mit einer phantastischen Kongruenz von Libretto und Musik, was zu beeindruckenden Darstellungen von Gefühlen, Beziehungen und Handlungswendungen führt.

Die Hamburger Inszenierung dieser 1857 mit wenig Erfolg uraufgeführten und 1881 in einer umfassenden Bearbeitung mit großem Beifall aufgenommenen Oper stammt aus dem Jahr 2006. Der Regisseur Claus Guth hat eine psychologisch vielschichtige Interpretation des Dramas entworfen, kongenial dazu sind das Bühnenbild von Christian Schmidt und das Licht von Wolfgang Göbbel gestaltet. Die nun schon 17 Jahre alte Inszenierung wurde bereits hinlänglich besprochen, aber es seien noch einmal die genialen Einfälle gewürdigt; einerseits ist dies der riesige Rahmen im Hintergrund, der mal als Spiegel die Erinnerungen, Gedanken und personellen Beziehungen illustriert und mal ein Gemälde ist.

(c) Hans Jörg Michel

Andererseits ist es der Meteorit, der bereits beim Prolog die Glaskassettendecke des repräsentativen Raums, in dem die Handlung spielt, eingeschlagen hat; man sieht seine drohende Unterseite erst in Akt I. Im zweiten Akt schwebt er drohend über allen Akteuren im Raum – ohne sichtbare Seile, was den Effekt bedrückend realistisch macht. Im letzten Akt hat er den Fußboden eingeschlagen, Trümmer liegen herum. Dieses ebenso stille wie grausam drohende Symbol eines unabwendbaren Schicksals hat schon etwas Kleist-haftes – es ist völlig klar, daß niemand, vor allem nicht der Protagonist, seiner unerbittlichen Bestimmung entrinnen kann.

Der Bariton George Petean singt die Titelrolle mit bewundernswerter Intensität; er gibt seiner Verzweiflung und der Liebe zu seiner Tochter intensivsten Ausdruck. Dieser Herrscher muß einsehen, daß die ihm aufgedrückten Pflichten bitter auf ihm lasten. Und das Wasser stillt nicht den Durst, sondern enthält das Gift des Verschwörers. Petean spielt mit Hilfe seiner Doubles, die handlungsfunktional sein jugendliches Ebenbild und seine Erschütterung darstellen, großartig die Agonie des zu Fall gebrachten Dogen. Eine starke Stimme, die vom ersten bis zum letzten Ton dieser anspruchsvollen Partie überzeugt.

Das Duett mit seiner Tochter Amelia, die Selene Zanetti gibt, ist einer der musikalischen Glanzpunkte der Oper; hier erkennt ein tiefbewegter Vater, daß er sein verlorenes Kind wiedergefunden hat. Die Sopranistin verleiht der Rolle zu Herzen gehende Tiefe, das Spiel mit den Dynamiken beherrscht sie mühelos und mit Grandezza.

(c) Hans Jörg Michel

Die Parte des harten Patrizier Jacopo Fiesco übernimmt der auf den großen Bühnen der Welt brillierende Baß Alexander Vinogradov, der unbestrittene Star des Abends. Man könnte ihm stundenlang zuhören; er verleiht der Rolle allein durch seinen Gesang erschütternde Momente und in den Tiefen erreicht er eine Profundo-Fülle, die ihresgleichen sucht. Sein Fiesco ist von einer Eleganz, die einem toskanischen Fürsten zur Ehre gereichen würde.

Eigentlich sollte Ramón Vargas den Gabriele Adorno singen, aber der Sänger mußte krankheitsbedingt kurzfristig absagen. So stieg Attilio Glaser kurzentschlossen in Berlin in den Zug, der glücklicherweise pünktlich in Hamburg ankam. Zwar beherrscht er die Rolle durch sein Berliner Engagement, aber natürlich mußte er sich in rasender Geschwindigkeit die Abläufe, überhaupt die ganze Personenregie aneignen. Das gelingt ihm problemlos, niemand hätte gemerkt, daß er „nur“ ein Einspringer ist. Zumal er weit mehr als das ist – er singt die Rolle des liebenden, zornigen, von Gefühlen hin- und hergezerrten Patrizier mit großer Kraft, Wandelbarkeit und bezwingender Glaubhaftigkeit.

Die andere Baßrolle ist die des Höflings Paolo Albiani, gegeben von Blake Denston. Er ist häufig in Hamburg zu sehen und man wünscht sich von diesem begabten und kraftvollen Sänger künftig auch mal größere Rollen.

Bei manchen Szenen hätte man sich in der Personenregie etwas mehr Beachtung der Interaktionen vorstellen können, aber diese Inszenierung spielt mit Tableaus und das Statuarische der Mitwirkenden hat auch etwas Unverrückbares. Möglicherweise soll hier auch dem Unvermögen der einzelnen Personen, sich von dem vom Schicksal vorgegebenen Weg zu entfernen, Ausdruck gegeben werden.

(c) Hans Jörg Michel

Alle Rollen sind hervorragend besetzt, auch der Chor unter Christian Günther ist gewohnt exakt, kräftig und fein abgestimmt. Das trifft ebenso für das Orchester zu, sensibel und zugleich energisch geleitet von Ivan Repušić. Die Musik ist trotz ihrer Klangfülle niemals zu laut, der Dirigent nimmt einfühlsam Rücksicht auf Solistinnen und Solisten, zudem schenkt er Soloinstrumenten entsprechende Beachtung, was ein fein ausdifferenziertes Klangbild ergibt. Dem Finale entgegen hat die Partitur spannungsreiche Temposteigerungen, Dirigent und Orchester nehmen angemessen Fahrt auf und verleihen dem Geschehen so eine mitreißende Dynamik.

Schade, daß das Haus so schlecht besucht war und völlig unverständlich, daß nach der Pause die Reihen noch lichter waren. Denn das war ein Opernabend von besonderer Klasse. Bravi ai tutti!

Andreas Ströbl, 5. April 2023


Giuseppe Verdi

Simon Boccanegra

Staatsoper Hamburg

4. April 2023

Musikalische Leitung: Ivan Repušić

Inszenierung: Claus Guth

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

Nächste Vorstellungen: 6. und 10. April.