Stuttgart: „Ariadne auf Naxos“

Besuchte Aufführung: 2.6.2019 (Premiere: 20.5.2013)

Freud’sche Persönlichkeitsspaltung und Kulturpessimismus

Freude bereitete die Wiederaufnahme von Jossi Wieler s und Sergio Morabito s bereits aus dem Jahr 2013 stammender Inszenierung von Strauss` Ariadne auf Naxos. Hier dürfte es sich um eine der besten Arbeiten des schon oft bewährten Regieduos handeln. Was Wieler, Morabito und die Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viehbrock hier geschaffen habe, ist erstklassiges Musiktheater, das in hohem Maße Begeisterung hervorruft. Der Tatsache Rechnung tragend, dass das Werk im Jahre 1912 im damaligen Kleinen Haus der Württembergischen Staatstheater aus der Taufe gehoben wurde, siedeln sie das Stück ebenfalls in Stuttgart an. Das Bühnenbild zitiert das Foyer des Kleinen Hauses, wie es 1912 ausgesehen hat – ein guter Einfall, der der Zeit der Uraufführung der Ariadne Rechnung trägt.

Simone Schneider (Ariadne)

Im Jahre 1912 ging die Ariadne-Oper in Stuttgart im Anschluss an Molières Komödie Der Bürger als Edelmann über die Bühne, fand beim damaligen Publikum aber wenig Anklang und wurde in dieser Form erst bei den Salzburger Festspielen 2012 erfolgreich reaktiviert. Vier Jahre nach seiner erstmaligen Präsentation haben Strauss und sein Librettist Hugo von Hofmannsthal das Werk in einer überarbeiteten Form und mit einem Vorspiel versehen in Wien neu herausgebracht. Dieser Neufassung war dann auch überall durchgehender Erfolg beschieden. An diese zweite Fassung aus dem Jahre 1916 knüpfen Wieler und Morabito an. Indes nehmen sie eine essentielle Veränderung vor: Ausgehend von der zutreffenden Überlegung, dass die eigentliche Oper nicht zu einem Theater auf dem Theater werden darf, da das eine Vielzahl letztlich falscher Fragen aufwirft und zu einer auf inszenatorischer Ebene nicht zu lösenden Aporie führt (vgl. die Ausführungen Morabitos im Programmbuch), setzen sie mit Zustimmung der Rechtsnachfolger des Komponisten die Oper Ariadne an den Anfang und präsentieren das Vorspiel am Schluss. Hier haben wir es mit einer in der Tat ungewöhnlichen und radikal anmutenden Lösung zu tun, die auf der anderen Seite voll aufgegangen ist. Im Hinblick auf den Gesamtkontext erscheint diese Umstellung ausgesprochen sinnvoll. Nun stehen beide Teile gleichberechtigt nebeneinander und können gleichermaßen ernst genommen werden. Diese Vorgehensweise bringt noch weitere Vorteile mit sich: Der Spannungsgehalt des Ganzen wird auf diese Weise sehr verstärkt, das Verständnis für zahlreiche inhaltliche Aspekte immens gesteigert und die Handlungsträger werden um einiges plastischer und schärfer gezeichnet. Davon ist in erster Linie Zerbinetta betroffen. Ihr Gefühlsleben und ihre Entwicklung erschließen sich dem Zuschauer derart viel deutlicher, als es bei Aufführungen in der traditionellen Reihenfolge von Vorspiel und Oper der Fall ist. Ihre jetzt am Ende des pausenlos durchgespielten Abends stehende Beziehung zu dem verzweifelten Komponisten erscheint dergestalt sehr viel tiefgründiger und fundierter, was den letzten Minuten der Vorstellung, an deren Schluss der mit den Nerven fertige Tonsetzer in den Orchestergraben herabsteigt, um ein mitreißendes Plädoyer für ungekürzte Opernaufführungen zu halten, von der psychologischen Warte aus eine ungeheure innere Kraft verleiht. Wie gebannt folgt man dem Geschehen, das rigoros entschlackt, von allen dramaturgischen Brüchen befreit und in eine einheitliche und konsequent durchgezogene inhaltliche Form gegossen wird. Dazu trägt auch Wielers ausgefeilte und stringente Personenregie einen gehörigen Teil bei. Der zwischen Vorspiel und Oper bestehende Widerspruch wird durch diese Umstellung sogar noch intensiviert, das Vexierbild erfährt keine Auflösung. Dieser Ansatzpunkt des Regieteams stellt einen echten Geniestreich dar!

Simone Schneider (Ariadne), Beate Ritter (Zerbinetta), Pawel Konik (Harlekin)

Neben dieser gelungenen äußeren, formalen Komponente ist auch der geistig-innovative Gehalt der Produktion vollauf überzeugend. Sich der Tatsache vollauf bewusst, dass die Ariadne in einer Zeit entstand, als sich gerade die Psychoanalyse durchzusetzen begann, legen Wieler und Morabito den Fokus der Oper gekonnt auf die innere Handlung und heben das Geschehen mithin auf eine psychologisch-geistige Ebene. Was sie auf die Bühne bringen, ist als irreales, psychoanalytisches Traumtheater zu verstehen, das in hohem Maße von den Lehren Sigmund Freuds geprägt ist. Seinen visuellen Ausgangspunkt hat dieses in dem riesigen Spiegel, der während der eigentlichen Oper im Hintergrund prangt, immer abwechselnd weitere Teile der Bühne reflektiert und in dem sich Ariadne und Zerbinetta ebenfalls spiegeln. Es sind äußerst komplexe psychologische Strukturen, die von den beiden Regisseuren auf hervorragende Art und Weise offengelegt werden.

Das Verhalten von Theseus hat bei der deprimierten Prinzessin zu einer ausgemachten Depression sowie einer Zerstörung der Libido geführt. Ihr Verhalten nimmt immer mehr narzisstische Züge an. Ihre Umwelt fast durchweg negierend, wandelt sich die lethargisch auf einem Schaumstoffsofa sitzende, ihren Kummer in Alkohol ertränkende Königstochter zu einer Paraphrenikerin im Freud`schen Sinne. Ihre Beziehung zur Realität hat sie zwar aufgegeben, ihre erotischen Beziehungen zu Personen oder Dingen sind indes durchaus noch vorhanden und nicht aufgehoben. Ariadnes Sehnsucht nach Theseus ist sehr sinnlicher Natur, ihre sexuellen Bedürfnisse sind nach wie vor recht ausgeprägt. Immer stärker knüpft sie in ihrer Phantasie ihre erotischen Kontakte und führt ihre der Außenwelt entzogene Libido dem Ich zu. Exakt das ist es, was Sigmund Freud unter Narzissmus versteht, den er mit der Schizophrenie in Verbindung bringt. Das Individuum führt eine Doppelexistenz. Seine Sexualtriebe sondern sich von den Ich-Trieben gänzlich ab und manifestieren sich in einer neuen Person namens Zerbinetta. Anders gesagt: Während die Ich-Libido Ariadne zu Eigen bleibt, fällt der in weißem Tüll auftretenden Zerbinetta die Funktion der Objektlibido der Prinzessin zu. Da ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Ariadne und der in einem schicken lilafarbenen Gewand seinem ersten sexuellen Abenteuer mit der Zauberin Circe entkommene Bacchus, auf den sie mit Hilfe eines Mythologiebuches ihre gesamte Todessehnsucht projiziert, ständig aneinander vorbeireden. Am Ende stellt der nun nur noch mit Unterwäsche bekleidete Gott dann auch lieber Zerbinetta nach. Jede der beiden Frauen existiert als unterdrückte Hälfte der jeweils anderen. Auf der einen Seite befindet sich die zerstörte Libido, aus der eine starke Depression resultiert, auf der anderen Seite ein ungehemmtes Ausleben der Sexualität, das sich Depressionen nicht leisten kann. Diese Persönlichkeitsspaltung kam trefflich zum Ausdruck. Für einen kurzen Moment erkennt jede der beiden Frauen in der anderen sich selbst. In diesem Augenblick hat das schizophrene Doppelwesen anscheinend zu einer Einheit gefunden. Diese zerbricht aber gleich darauf wieder. Der Sachverhalt ist mit demjenigen in Hofmannsthals Romanfragment Andreas vergleichbar, in dem die Dame Maria und die Kokotte Mariquita ebenfalls als Alter Egos aufzufassen sind, was zum Schluss mit Hilfe eines Hündchens offenbar wird. Eine Nachbildung desselben erblickt man in einer am rechten Bühnenrand befindlichen Glasvitrine. Zum Schluss erkennt Ariadne, dass es so nicht weiter gehen kann. Sie holt sich den künstlichen Hund und steigt zusammen mit ihm nicht nur durch das Fenster aus dem nachgebildeten Theaterfoyer, sondern aus der ganzen Handlung aus. Nun ist sie bereit, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen und zu neuen Ufern aufzubrechen.

Harald Schmidt (Haushofmeister)

Ohne Pause schließt sich das Vor- bzw. Nachspiel an. Es mutiert in Wielers und Morabitos Interpretation zu einem Endspiel à la Beckett und ist in einem mit Stuhlreihen und einem Rednerpult ausgestatteten Probenraum der Staatsoper Stuttgart mit Blick auf die Konrad-Adenauer-Straße, auf der ständig Autos vorbeifahren, angesiedelt. Nachhaltig wird hier über die Zukunft des Stuttgarter Opernhauses spekuliert. Der ursprünglich reichste Mann von Wien ist in dieser Deutung wohl zu einem Stuttgarter Investor geworden, der die Staatsoper aufgekauft und in ein Privattheater umgewandelt hat und dessen unberechenbare Launenhaftigkeit das Ensemble, dessen einzelne Mitglieder mit Zitaten aus der Musik- und Filmgeschichte versehen sind, durchaus nachvollziehbar mit schweren Sorgen erfüllt. Hier gibt es keinen Komponisten, keinen Musiklehrer und keinen Tanzmeister mehr, sondern nur noch diese Partien verkörpernden Sängern. Alles ist eine Fiktion. Es geht nur noch um das Zitieren einer Kunst, die diese Künstler früher einmal ausgeübt haben. Jetzt befinden sie sich in einer existentiellen Notlage. Angst vor Kündigung kommt auf. Es ist nur zu verständlich, dass die durchweg vom Rauswurf bedrohten Sänger angesichts drohender Arbeitslosigkeit hypernervös sind. Nur die meistens vorne links an der Rampe kauernde, nun kurze Jeans tragende Sängerin der Zerbinetta bewahrt die Ruhe. Sie hat jetzt alle Ausgelassenheit und Heiterkeit abgelegt und sich zu einem tiefernsten Charakter entwickelt. Auch dem Wolfgang Wagner ähnlich sehenden Musiklehrer gelingt es nicht, seine Leute zu beruhigen. Der alte Patriarch hat ausgedient. Verzweiflung und Verlorenheit breiten sich unter den Sängern aus, die einer ungewissen Zukunft entgegensehen. Sie begegnen sich mit Selbsthass und Zynismus und fallen zunehmend in eine regelrechte Ohnmacht. Es sind indes nicht nur Einzelschicksale, die her mit großer Vehemenz thematisiert werden. Das Schicksal der Kunst allgemein wird hier nachhaltig problematisiert. Die ständige Abhängigkeit von Sponsoren lässt die Aussichten des Ensembles nicht gerade rosig erscheinen. Eindringlich stellt das Regieduo die Frage in den Raum, ob unter solchen Umständen Kunst überhaupt noch möglich ist, und wartet mit einem ausgeprägten Kulturpessimismus auf, wobei die nötige gewordene Renovierung des Opernhauses ebenfalls einen Inhaltspunkt bildet. Eindringlich richten Wieler und Morabito an die Öffentlichkeit den Appell, in die Zukunft nicht nur der Stuttgarter Staatsoper, sondern der gesamten Kultur zu investieren. Die von ihnen zur Diskussion gestellten Fragen bleiben letzten Endes zwar unbeantwortet. Sie haben indes Diskussionsstoff geliefert, dem man sich nicht mehr entziehen kann. Das Ende ist offen. Was bleibt, ist eine Vision für die Zukunft, die hoffentlich nicht in eine Utopie ausartet. Oper und Kunst sind wichtig!

Diana Haller (Komponist)

Zufrieden sein konnte man auch mit den Sängern. In erster Linie vermochte Simone Schneider als Ariadne/Primadonna zu begeistern. Mit voluminöser, in jeder Lage sauber ansprechenden, eleganter Linienführung, schönen Spitzentönen und einer profunden Tiefe zog sie jede Facette der Königstochter, der sie insgesamt einen sehr lyrischen Anstrich gab. Mit gut fokussiertem, kräftigem und höhensicherem Tenor stattete David Pomeroy den Bacchus/Tenor aus, den er auch überzeugend spielte. Die Zerbinetta von Beate Ritter war schon darstellerisch eine Wucht. Ihr Spiel mutete recht fetzig an. Gesanglich vermochte sie mit ihrem trefflich verankerten, bis in höchste Höhen sicher geführten Sopran hervorragend zu gefallen. Das aus Josefin Feiler (Najade), Ida Ränzlöv (Dryade) und Carina Schmieger (Echo) bestehende Nymphentrio bildete einen homogenen Gesamtklang. Mit prächtigem, markantem Bariton stattete Pawel Konik den Harlekin aus. Auf vokal solidem Niveau bewegten sich seine Mitstreiter Heinz Göhrig (Scaramuccio), David Steffens (Truffaldin) und Mingjie Lei (Brighella). Diana Haller war ein voll und rund singender Komponist, dessen Nöte sie auch schauspielerisch glaubhaft vermittelt hat. Immer noch über beträchtliche Baritonreserven verfügte der Musiklehrer von Michael Ebbecke. Ein ordentlicher Tanzmeister war Daniel Kluge. Insbesondere seine Höhe war imposant. Nichts auszusetzen gab es an Jasper Leever s Lakai. Demgegenüber fiel der dünn singende Offizier von Moritz Kallenberg ab. Den Perückenmacher gab Elliott Carlton Hines. Zudem ist noch der Schauspieler und Entertainer Harald Schmidt zu erwähnen, der sich als Idealbesetzung für die Sprechrolle des Haushofmeisters erwies.

Am Pult animierte GMD Cornelius Meister das gut gelaunt aufspielende Staatsorchester Stuttgart zu einem flüssigen, frischen und kammermusikalisch anmutenden Spiel. Das war schon ein herrlich aufblühender Strauss-Klang, dem es auch an schönen Kantilenen und vorbildlicher Transparenz nicht mangelte.

Fazit: Eine in jeder Beziehung ausgesprochen hochkarätige Aufführung. Es ist der Stuttgarter Fassung der Ariadne zu wünschen, dass sie sich auch an anderen Bühnen durchsetzt.

Ludwig Steinbach, 3.6.2019

Die Bilder stammen von Martin Sigmund.