Stuttgart: „Così fan tutte“

Besuchte Aufführung: 26.5.2019 (Premiere: 31.5.2015)

„Und täglich grüßt das Murmeltier“ oder Big Brother, Sartre und Nietzsche

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Zu einer szenisch sehr interessanten Angelegenheit geriet die Wiederaufnahme von Mozarts Cosi fan tutte an der Staatsoper Stuttgart. Es ist schön, dass sich Yannis Houvardas` im Bühnenbild von Herbert Murauer und den Kostümen von Anja Rabes spielende Inszenierung, die bei ihrer Premiere 2015 nicht unumstritten war, inzwischen durchgesetzt hat. Der Applaus fiel äußerst herzlich aus. Das ist aber auch kein Wunder, denn diese Produktion ist hervorragend durchdacht und äußerst gut umgesetzt. Die szenische Leitung der Wiederaufnahme lag bei Rebecca Bienek.

Yannis Houvardas verlegt das Geschehen in die Zeit der Sexuellen Revolution der 1960er Jahre, als die jungen Leute allmählich begangen, sich von der Prüderie ihrer Eltern zu lösen und einem etwas loseren Lebensstil frönten, der schließlich in die 1968er Revolution mündete. Das Bühnenbild stellt ein nach vorne offenes, aus acht unterschiedlich eingerichteten Räumen bestehendes Wohnhaus dar. Dieses wirkt in seinen Beige-Braun-Tönen etwas nüchtern und alles andere als schön, was indes nur Mittel zum Zweck ist. Der bitterere Beigeschmack der in dem Stück thematisierten fragwürdigen Wette findet in derart unansehnlichen visuellen Impressionen einen trefflichen Ausdruck. Die Handlung läuft, auf die einzelnen Raumsegmente verteilt, in mannigfaltigen Parallelhandlungen ab. Dadurch, dass die einzelnen Zimmer des Hauses jederzeit einsehbar sind, kann von einer Privatsphäre der Handlungsträger keine Rede sein. Alle Protagonisten stehen zu jeder Zeit unter Beobachtung der anderen Beteiligten sowie des Publikums, das auf diese Weise unfreiwillig zum Voyeur wird. Hier wartet der Regisseur gekonnt mit Tschechow’schen Elementen in ihren extremsten Ausprägungen auf, wodurch die Spannungskurve enorm gesteigert wird.

Wenn der Vorhang aufgeht, sieht man die sechs leger eingekleideten Handlungsträger bereits auf der Bühne. Alle sind im Freeze erstarrt. Keiner rührt sich, nichts bewegt sich. Auf einmal kommt Leben in die starren Figuren, die gleichmäßig über die gesamte Bühne verteilt sind. Fiordiligi beginnt leicht zu flirren und Guglielmo ergeht sich in heftigen, etwas seltsam anmutenden Zuckungen. Man kann den Eindruck gewinnen, als ob die drei Paare – auch die Haushälterin Despina und Don Alfonso stellen hier ein solches dar – bereits ein einschneidendes Erlebnis hinter sich gebracht haben, dass sie reglos gemacht hat. Nun sehen sie, wieder zum Leben erwacht, bang und angsterfüllt einem über sie hereinbrechenden gleichartigen Erlebnis entgegen. Im weiteren Verlauf der Aufführung stellen sich an keiner Stelle Leerläufe ein. Houvardas` Personenregie ist ausgezeichnet. Seine Herkunft vom Schauspiel wird offenkundig. Er setzt Mozarts Werk derart fetzig, munter und ausgelassen in Szene, dass es eine Freude ist. Es wird wirklich nie langweilig. Die Sänger werden von ihm zwar extrem gefordert, aber sie führen seine Anweisungen mit großer Lust, elan- und temporeich aus. Da geht es oft schon sehr hoch her. Nachhaltig bringt der Regisseur den Sexus mit ins Spiel, und das in erster Linie im Duett zwischen Dorabella und Guglielmo. Er lässt die Hosen herunter und entledigt auch sie ihres Höschens. Fiordiligi hat sich ebenfalls starken sexuellen Attacken von Ferrando zu erwehren; insgesamt geht es in dem Verhältnis dieser beiden aber nicht so krass zu.

Entsprechend der Transferierung des Geschehens in die Zeit der frühen Sexuellen Revolution gleicht Houvardas auch die philosophische Basis der Oper der Zeit um 1960 an. Don Alfonso wird hier nicht librettogemäß als Vertreter der an der Vernunft orientierten Aufklärung dargestellt, sondern als überzeugter Anhänger des Existentialismus. Insbesondere Sartres bedeutendes Werk Die Transzendenz des Ego scheint er aufmerksam gelesen zu haben. Der starke Zynismus des Philosophen und die Verachtung, die er gegenüber den anderen Personen an den Tag legt, weisen ihn nicht gerade als ausgemachten Menschenfreund aus. Dieser Ansatz geht im Gesamtgefüge der Handlung dann auch voll auf. Nach Ansicht vieler stellt der Existentialismus die erste Manifestation des zeitgenössischen Antihumanismus dar. Und in dem ist Don Alfonso ganz groß, wenn er ständig nur darauf bedacht ist zu ergründen, wie sich das Ego der anderen zusammensetzt, und er im Zuge einer großangelegten Versuchsanordnung mit den jungen Paaren als Versuchskaninchen das Ich und die Psychen seiner Mitspieler zum puren Objekt degradiert. Offenbar ist er in früheren Zeiten in Sachen Liebe bitter enttäuscht worden. Das hat ihn zu einem ausgeprägten Nihilisten gemacht.

Der von Don Alfonso an den Tag gelegte Nihilismus ist andererseits mit Blick auf Nietzsches Schrift Menschliches, Allzumenschliches aber auch eine lebensbejahende Kraft. Die perfide Wette lässt ihn neue Stärke gewinnen. Das Ganze ist als ein teils ernstes, teils heiteres Spiel mit Namen Big Brother aufzufassen, in dem der Philosoph in die Rolle von Big Brother – entgegen der bekannten Fernseh-Show indes eines sichtbaren – schlüpft, um seine Mitspieler immer wieder erneut zu mehr oder weniger sinnvollen Handlungen zu animieren. Nur wenn man Houvardas` Regiekonzept als Ausfluss der berühmten Reality-Show begreift, lassen sich so manche auf den ersten Blick irrationale Brüche in der Inszenierung kitten. So wenn der Regisseur Fiordiligi und Dorabella von Anfang an zu Zeuginnen der Wette zwischen den Männern werden lässt. Diese Idee ist zwar nicht mehr neu, wird hier aber etwas variiert. Während in so manch anderer Produktion die beiden Schwestern das einleitende Gespräch der Männer belauschen und in der Folge ihrerseits mit den Liebhabern ein Spiel beginnen, ist den Herren hier durchaus bewusst, dass die Frauen stets zugegen sind und alles mitkriegen. Desgleichen verhält es sich mit Despinas Verkleidungen als Arzt und Notar, die ohne das zugrunde gelegte Big-Brother-Verständnis gänzlich unverständlich wären, und mit den fehlenden Maskeraden von Ferrando und Guglielmo, die in vielen anderen Interpretationen des Stücks sowieso oft sehr unglaubwürdig wirken. Demzufolge ist es kein Wunder, dass sich Houvardas der damit einhergehenden Gefahr, ins Lächerliche abzudriften, gar nicht erst aussetzt, sondern ihm mit seinem neuen Ansatz trefflich entgeht. Man tut einfach alles, was Big Brother alias Don Alfonso verlangt, mag es auch noch so seltsam erscheinen. Interessant hierbei ist, dass der Regisseur letztlich überhaupt keine Stellung dazu bezieht, welche der Partner zum Schluss zusammenkommen sollen. Zu Beginn des Spiels nähern sich Ferrando und Guglielmo wie selbstverständlich ihren bisherigen Bräuten und wechseln erst zu einem späteren Zeitpunkt zu der des jeweils anderen. Hier haben wir es schon mit einem ausgemachten Bäumchen-wechsle-dich-Spiel zu tun. Sogar am Ende, an dem die Liebesverwirrungen noch einmal in einen letzten Höhepunkt münden, bleibt ungeklärt, welche Paare letztlich füreinander bestimmt sind. Der die Vorstellung beschließende kollektive Schrei ist als Ausdruck eines neuen, befreiten Lebens zu verstehen, für das – erneut Nietzsches Verständnis in Menschliches, Allzumenschliches zugrundegelegt – Don Alfonsos gepflegter, hier positiv wirkender Nihilismus die Grundlage schuf. Man sollte sich indes nicht zu früh freuen. Wenn am Ende sämtliche Protagonisten in denselben Positionen wie zu Beginn aufs Neue erstarren und auf diese Weise das Eingangsbild wiederkehrt, erweist sich, dass das Ganze ein ewig währender Kreislauf ist, aus dem es kein Entrinnen gibt. So wie das Spiel augenscheinlich genau in derselben Weise bereits vor dem Beginn schon einmal abgelaufen ist, kann es jetzt wieder von neuem beginnen. Dieses Gefangensein in einer Zeitschleife gemahnt stark an den Film Und ewig grüßt das Murmeltier. Die Frage, ob die beteiligten Personen gleich dem Helden in diesem Film aus dem fatalen Kreislauf ausbrechen können, bleibt unbeantwortet – ein sehr pessimistisches, nichtsdestotrotz recht überzeugendes Ende.

Mit den Sängern konnte man fast durchweg zufrieden sein. Laura Wilde sang mit schlankem, gut sitzendem und ebenmäßig geführtem Sopran eine solide Fiordiligi, die sie auch überzeugend spielte. Die Gewissensnöte und den inneren Kampf des Mädchens hat sie glaubhaft vermittelt. Einen trefflich verankerten, recht emotional anmutenden und in jeder Lage gut ansprechenden Mezzosopran brachte Stephanie Lauricella für die Dorabella mit. Gut gefiel auch Catriona Smith, die mit vollem, rundem Sopran eine ansprechende Despina gab. Bei den Männern machte Johannes Kammler das Rennen, dessen sonorer, vollstimmiger Bariton ideal für den Guglielmo war. Der insgesamt ordentlich singende Ferrando von Mingjie Lei erreichte dieses hohe Niveau zwar nicht ganz, war aber durchaus passabel. Demgegenüber fiel der mit einem reichlich variablen Stimmsitz aufwartende Georg Nigl als Don Alfonso ab. Nichts auszusetzen gab es an dem von Manuel Pujol einstudierten, von der Regie als Alter Egos der Liebenden vorgeführten Staatsopernchor Stuttgart.

Eine gute Leistung erbrachte GMD Cornelius Meister am Pult, der das gut gelaunt aufspielende Staatsorchester Stuttgart zu einem frischen, markanten und ebenmäßig dahinfließenden Spiel animierte. Der von Dirigent und Musikern erzeugte Klangteppich zeichnete sich zudem durch große Emotionalität und viele Nuancen aus.

Fazit: Eine bemerkenswert gute, aufregende und kurzweilige Produktion, die den Besuch wieder einmal voll gelohnt hat.

Ludwig Steinbach, 27.5.2019

Bilder (c) Staatsoper Stuttgart / A.T. Schäfer